Im Sommersemester 2006 behandelten die Vorträge des Lübecker Studium Generale im Rahmen der Reihe "Was ist der Mensch? Natur - Kultur" das Thema "Personale Identität".Facetten der Identität (Prof. Dr. Hans Saner, Basel/Schweiz, 27.4.2006)
Der Mensch in der Spannung von Identität und Nicht-Identität - Streng genommen könnte A nur dann mit sich selbst identisch sein, wenn es absolut und unveränderbar wäre und nur zu sich selber in Beziehung stünde. All das trifft auf den Menschen nicht zu. Er ist ein zufälliges Wesen, das grosse Veränderungen in seiner Gestalt, seinen Kenntnissen und Fähigkeiten aufweist und seine Beziehungen zu Menschen und Dingen immerzu verändert. Für ihn kann es deshalb Identität nur im Wandel, und das heisst, in der Differenz zu sich selber und zu Anderem geben. Was erlaubt uns dann noch zu sagen, dass er in diesem Wandel mit sich selbst identisch bleibe? Saner zeigt, dass beides in mancher Hinsicht gefährlich ist: den Identitätsanspruch aufzugeben und ihn absolut zu setzen.
Hans Saner wurde 1934 in der Nähe von Bern, in der Schweiz, geboren. Er studierte an den Universitäten Lausanne und Basel Philosophie, Psychologie, Germanistik und Romanistik. Von 1962 bis 69 war er Privatassistent von Karl Jaspers, dessen Rechtsnachfolger er ist. Im Auftrag der Karl Jaspers-Stiftung gab er in den Jahren 1973-1990 Jaspers' Nachlass (7 Bände) heraus. Seit 1979 lehrt er an der Hochschule für Musik in Basel Kulturphilosophie, arbeitet aber überwiegend freischaffend. Er verfasste zahlreiche Bücher zu philosophiegeschichtlichen, anthropologischen, kulturkritischen und politischen Themen und wurde für sie mehrfach ausgezeichnet. - Schriften (in Auswahl): Identität und Widerstand. Fragen in einer verfallenden Demokratie. Basel 1988, 2. Aufl. 1991; Die Anarchie der Stille. Basel 1990, 3. Aufl. 1996; Der Schatten des Orpheus. Basel 2000; Karl Jaspers mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1970, 12. Aufl. 2004.
Die Philosophie des Ichs (Prof. Dr. Michael Pauen, Magdeburg, 18.5.2006)
Nicht erst seit heute steht das Ich unter dem Verdacht, das Überbleibsel einer überholten Metaphysik zu sein. Ich-Skeptiker verweisen darauf, dass es in unserem Gehirn nichts gibt, was auch nur im Entferntesten einem Ich entspräche. Das Ich sei eine Illusion, eine Erfindung, mit der man am besten kurzen Prozess mache. Doch wie viele andere spektakuläre Behauptungen über bevorstehende Umstürze unseres Selbstverständnisses beruht auch diese auf einem Missverständnis. Das Ich ist kein Objekt, das man irgendwo in den Windungen des Kortex aufspüren kann, wenn man nur lange genug sucht. Vielmehr meinen wir mit dem Ich bestimmte Fähigkeiten und Einsichten: Selbstbewusstsein, eine Vorstellung von unserem Körper, unseren Überzeugungen, Wünschen und Gedanken, schließlich ein Wissen von unserer eigenen Biographie. All dies lässt sich in den Mitteln der Psychologie und der Neurowissenschaften untersuchen - es handelt sich also um natürliche Fähigkeiten. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Wissenschaften unser Selbstverständnis nicht etwa bedrohen, sondern zu einem besseren Verständnis unserer Fähigkeiten und ihrer natürlichen Grundlagen verhelfen können.
Prof. Dr. Michael Pauen ist Professor für Philosophie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Die Hauptarbeitsgebiete sind die Philosophie des Geistes und die Kulturphilosophie. Er studierte in Marburg, Frankfurt am Main und Hamburg und war Visiting Professor am Institute for Advanced Study in Amherst, Massachusetts, Fellow an der Cornell University und am Hanse Wissenschaftskolleg in Delmenhorst. 1997 erhielt er den Ernst-Bloch-Förderpreis. In der Philosophie des Geistes hat sich Pauen insbesondere durch eine Argumentation für die Identitätstheorie und die Gleichsetzung von mentalen und neuronalen Zuständen einen Namen gemacht. - Veröffentlichungen (Auswahl): Das Rätsel des Bewusstseins. Eine Erklärungsstrategie. Paderborn 1999, 22001; Grundprobleme der Philosophie des Geistes. Einführung. Frankfurt 2001, 32002; Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung. Frankfurt 2004.
Ein Bericht für eine Akademie (Der Schauspieler Günter Bothur liest den literarischen Text von Franz Kafka, Dr. Hans Wißkirchen, Lübeck, führt ein und moderiert zum Thema "Identität bei Kafka", 22.6.2006)
Wie wird man zum Menschen? Wie schafft es ein Tier, die Grenze zu übertreten und durch Nachahmung, durch Streben und Lernen, durch Assimilation, Verdrängung des Eigenen zum Menschen zu werden? Der Affe Rotpeter berichtet davon, von seinen Anstrengungen, die ihn in die Freiheit führten, einem Weg freilich, der bei Kafka niemals eindeutig sein kann. Der Bericht lässt vielfältige Deutungen zu, und in einem einprägsamen Kammerspiel setzt der Schauspieler Günter Bothur diese interpretatorischen Möglichkeiten eindrucksvoll in Szene.
Die Germanisten Dr. Mirella Carbone (Catania) und Joachim Jung (Lübeck-Travemünde), langjährige Kuratoren, nun wissenschaftliche Mitarbeiter des Nietzsche-Hauses in Sils-Maria (Engadin), haben aus Nietzsches Werken eine Textsammlung zusammengestellt, die die lebenspraktische Relevanz seines Denkens aus einer neuen Perspektive beleuchtet: Hektik ist ein pathologisches Grundmerkmal unserer Zeit und der Massengesellschaft.
Friedrich Nietzsche empfiehlt demgegenüber "langsame Curen" - so der Titel des Buches, das Mirella Carbone und Joachim Jung 2000 im Herder Verlag herausgegeben haben. Die ausgewählten Texte aus Werken und Briefen des Philosophen zeigen an, wie nachdrücklich Nietzsche seine Leser dazu auffordert, sich auf die Suche nach den "eigenen" Lebensbedingungen zu machen, das heißt nach solchen, die den individuellen Bedürfnissen entsprechen und in denen der Einzelne seine Persönlichkeit am besten entfalten kann. Nietzsche selbst ist diesen Weg existentiell denkend gegangen: Die Fragilität seiner Existenz, seine Einsamkeit, seine Krankheiten, seine vielfältige Abhängigkeit von Bedingungen des äusseren Lebens wie Ort, Klima, Ernährung usw. haben ihn dazu geführt, diese Abhängigkeiten in ihrem lebenspraktischen Wert gründlicher zu durchdenken. In ihnen liegen Chancen einer gesteigerten Existenz verborgen. Der Philosoph begreift Gesundheit nicht als verallgemeinerbaren Zustand, sondern als je individuelle Aufgabe, als einen Prozess fortgesetzter aktiver Selbstaneignung im Horizont der eigenen Lebensbedingungen und -bedürfnisse (Friedrich Nietzsche, "Langsame Curen - Ansichten zur Kunst der Gesundheit", Freiburg in Breisgau, Herder Spektrum, 2000).
Prof. Dr. Hans Wißkirchen, 1955 in Düsseldorf geboren, nach dem Studium der Germanistik und Philosophie in Marburg 1985 Promotion mit einer Arbeit über die zeitgenössischen Quellen von Thomas Manns Romanen "Der Zauberberg" und "Doktor Faustus". Bis 1991 im Rahmen von Projekten der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter anderem an der Georg Büchner-Forschungsstelle der Philipps-Universität Marburg beschäftigt. Von 1991 bis 1993 Aufbau der Forschungs- und Gedenkstätte zu Heinrich und Thomas Mann im Buddenbrookhaus in Lübeck. Seit 1993 Leiter des Buddenbrookhauses, seit 2001 Direktor der Kulturstiftung Hansestadt Lübeck, seit 2006 Geschäftsführender Direktor aller Lübecker Museen. Prof. Wißkirchen ist Honorarprofessor für Neue Deutsche Literatur an der Universität zu Lübeck. - Veröffentlichungen (Auswahl): Zeitgeschichte im Roman. Zu Thomas Manns "Zauberberg" und "Doktor Faustus". Bern 1986; Die Familie Mann. Reinbek 1999; Thomas Mann und die Wissenschaften. Lübeck 1999 (gemeinsam mit Dietrich v. Engelhardt); Dichter und ihre Häuser. Die Zukunft der Vergangenheit. Lübeck 2002; Thomas Manns "Tonio Kröger". Wege einer Annäherung. Heide 2003 (mit Fotos von Walter Mayr); Thomas und Heinrich Mann im Spiegel der Karikatur. Paderborn 2003 (gemeinsam mit Thomas Sprecher); "Der Zauberberg" - Die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman. Stuttgart, New York 2003 (gemeinsam mit Dietrich v. Engelhardt).
Günter Bothur, in Lübeck und Berlin lebender Schauspieler, erhielt seine Ausbildung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater in Hamburg und begann seine Karriere am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Er arbeitet für Film und Fernsehen, spielte u. a. an Theatern in Berlin, Bremen, Frankfurt, Saarbrücken, München, Lübeck, Hannover und machte sich auch mit Lesungen und Rezitationen einen Namen. Sein Programm umfasst nicht nur Texte der klassischen Weltliteratur, sondern auch literarische Kostbarkeiten wie z.B. ins Niederdeutsche übertragene Bibeltexte des Alten und Neuen Testaments.
Krankheit und Identität bei Friedrich Nietzsche (Dr. Mirella Carbone und Joachim Jung, Sils-Maria/Schweiz, 13.7.2006)
für die Ukraine