Unter der Schirmherrschaft und Mitwirkung von Bundespräsident a.D. Joachim Gauck fand der Abend der Vielfalt erstmals gemeinsam mit der Technischen und der Musikhochschule statt
Vielfältige Toleranz und das Bauen von Brücken waren die Grundthemen auf dem Abend der Vielfalt 2021, der am 9. November in der Universitätskirche St. Petri stattfand.
„9. November, und ich bin hier“, begann Joachim Gauck seinen Vortrag und räumte sofort, mit einem Seufzen, ein: „Natürlich ist dieses Datum ein sehr ambivalentes Datum.“ Der Tag erinnere uns an tiefes Versagen und an wunderbares Gelingen. Gauck sprach die Reichspogromnacht 1938 und den tiefen Fall des Landes an, aber auch die Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1989, die durch den Mauerfall begann.
Toleranz sei für ihn nicht Gleichgültigkeit. Das sei zu einfach. Toleranz sei nicht zwangsläufig auch Anerkennung, führte er weiter aus. Auch Streit sei eine Art von Toleranz, sagte Gauck. Das sei nicht einfach, gehöre zur Toleranz aber dazu. Gerade in Bezug auf die AfD falle es ihm oft schwer, diese Art der Toleranz selbst zu leben. „Tolerieren heißt nicht mögen, sondern es kann auch heißen, dass ich gezwungen bin zu kämpfen“, so Gauck. Der Applaus währte lange nach diesem Impulsvortrag.
„Vielfalt braucht Diskurs, um sich zu entfalten und sich zu entwickeln. Den wollen wir heute bieten“, hatte die Präsidentin der Universität, Prof. Dr. Gillessen-Kaesbach, in ihrer Begrüßung im Namen der drei ausrichtenden Lübecker Hochschulen, gesagt. Entsprechend lebhaft und lebendig setzte das Klezmer-Ensemble „Vagabund“ den musikalischen Auftakt in dem bunt erleuchteten Kirchenraum mit wirbelnden Rhythmen.
Das eigene Erleben von Ausgrenzung als Bedingung für gelebte Toleranz?
„Ich fühle mich nicht wohl in diesen großen Fußspuren meines Vorredners“, gestand Poetry Slamer Lars Ruppel, als er nach dem Bundespräsidenten a.D. die Bühne betrat. Er bringe aber drei Themen mit: sein Leben, die Poesie und Borussia Dortmund. „Das muss Ihnen nicht gefallen, wie wir gerade gelernt haben“, sagte er schmunzelnd. Vielfalt ist eine Schatztruhe, Sprache der Schlüssel dazu, so rappte er und erntete viel Applaus für seine gereimte Einstimmung vor der Podiumsdiskussion.
Mit ihren prominenten Gästen war sie das Herzstück des Abends: zusammen mit Joachim Gauck diskutierten Deidre Berger, Vorstandsvorsitzende der Jewish Digital Cultural Recovery Project Stiftung, und Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der ZEIT. Gekonnt moderiert wurde das Gespräch von Max Schön, dem Vorsitzenden der Possehl-Stiftung Lübeck.
Brücken bauen kann man lernen, war die erste Feststellung, die den Raum füllte. Und Brücken bauen müssen immer beide Seiten, war die zweite Erkenntnis, die Deidre Berger formulierte. Giovanni di Lorenzo wurde von Max Schön auf seine Kindheit und seine Jahre in Schweden, Italien und Deutschland angesprochen. „Das Gefühl, fremd zu sein, ist das Leitmotiv meiner Kindheit und Jugend gewesen“, erzählte er. Deutschland sei damals sehr fremdenfeindlich gewesen. Gauck kennzeichnete sich als Mann des gesprochenen Wortes. „Das ist früh in mein Leben gekommen“, sagte er, aber ebenso Unrecht. Das Pastor-Sein habe ihm Sinn und Halt gegeben.
Allen dreien auf dem Podium, so wurde im Verlauf des Gesprächs deutlich, ist das Gefühl sehr wohl bekannt, ausgegrenzt zu werden. Vielleicht, so klang es in einem persönlichen Fazit an, werde gelebte Toleranz erst durch eigenes Erleben möglich.
Abgerundet wurde die Diskussion mit einer kurzen Fragerunde aus dem Publikum. Eine poetische Zusammenfassung, noch einmal Musik und die Einladung zur Fortsetzung des Gespräches an den Bistrotischen beschlossen einen nachdenkenswerten Abend.
Für Joachim Gauck war der Abend der Vielfalt nicht der erste Berührungspunkt mit der Universität Lübeck. Bereits im Wintersemester 1999/2000 hatte er eine Gastprofessur der Universität inne und hielt hier eine vierteilige Vorlesungsreihe. Sie stand unter dem Titel "1989 - Vom Untertan zum Bürger" und fand viel öffentliche Beachtung. Die letzte Vorlesung, "'Charaktermauer' zwischen Ost und West? Vom langen Schatten der Diktaturen und der Langsamkeit des Mentalitätswandels", haben wir im Magazin der Universität, dem damaligen FOCUS MUL (heute focus LIVE), abgedruckt. Als PDF-Download unter www.uni-luebeck.de/aktuelles/presse/hochschulmagazin/hochschulmagazin/focus-mul-20003.html steht sie zum Nachlesen bereit (S. 191 ff). |
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