Stellungnahme des Lübecker interdisziplinären Forschungsschwerpunkts "Ethik, Recht, Geschichte und Didaktik im Spektrum der klinischen Medizin
Hat ein inzwischen bewusstloser Patient einen Rechtsanspruch darauf, dass eine von ihm zu einem früheren Zeitpunkt verfasste "Patientenverfügung" rechtsverbindlich ist? Kann die von ihm verfügte Begrenzung medizinischer Behandlungsmaßnahmen damit notfalls auch gerichtlich durchgesetzt werden? Kann er Ärzte und Pflegekräfte unter Umständen sogar verpflichten, zielstrebig seinen Tod herbei zu führen? Und ist für solche "Entscheidungen am Lebensende" auch eine richterliche Genehmigung erforderlich?
Diese und ähnliche Fragen werden im Zusammenhang mit dem so genannten "Lübecker Fall" kontrovers diskutiert: Ein zum Betreuer bestellter Sohn hatte beim Vormundschaftsgericht beantragt, die Magensondenernährung seines Vaters zu stoppen, der in Folge eines schweren Herzinfarktes seit November 2000 im Koma, aber nicht unmittelbar im Sterben lag. Dieser Antrag stützte sich maßgeblich auf eine Verfügung, die der Patient zwei Jahre vor Eintritt des Komas unterschrieben hatte. Darin hatte der Betroffene erklärt, im Fall irreversibler Bewusstlosigkeit oder schwerster Dauerschäden des Gehirns wolle er unter anderem weder künstlich ernährt noch beatmet werden. Die Amts- und Landgerichte Lübeck, das Oberlandesgericht Schleswig und zuletzt der Bundesgerichtshof hatten sich mit dem Fall zu befassen. Deutliche Kritik an großen Teilen der bisherigen Berichterstattung zum "Lübecker Fall" hat jetzt eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe von Ärzten, Juristen und Medizinethikern aus der Hansestadt geübt.
Wie berichtet, hatte der Bundesgerichtshof (BGH) in einem Beschluss vom 17. März 2003 weitreichende Klarstellungen in Bezug auf so genannte "Patientenverfügungen" und "Entscheidungen am Lebensende" getroffen. Diese Grundsatzentscheidung trug dem BGH jedoch heftige Vorwürfe ein:
Anlässlich der Veröffentlichung eines umfangreichen Kommentars zu der umstrittenen BGH-Entscheidung widerspricht die Lübecker Arbeitsgruppe diesen Darstellungen. Zugleich nimmt sie den zuständigen Senat des BGH vor unangemessener und inhaltlich großteils fehlerhafter "Richterschelte" in Schutz.
Ad 1: Die Arbeitsgruppe verweist darauf, dass sich gerade der BGH - und mit ihm das deutsche Medizin- und Betreuungsrecht - in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten stets als differenziert entscheidender, verlässlicher Partner bei der Umsetzung zutiefst medizinethischer Anliegen sowie als "Bollwerk des Patientenschutzes" erwiesen hat. Dies gilt tatsächlich auch für seine Entscheidung im "Lübecker Fall": So wurde durch die Bundesrichter unmissverständlich klar gestellt, dass selbst eine sehr einfach gehaltene Verfügung eines (inzwischen) nicht mehr selbst entscheidungsfähigen Patienten als "erklärter Wille" verbindlich ist. Dies ergibt sich aus dessen verfassungsmäßig garantiertem Selbstbestimmungsrecht. Insbesondere dürfen der behandelnde Arzt oder sonstige Beteiligte dem Betroffenen nicht ohne wirklich stichhaltigen Beleg unterstellen, dass dieser zwischenzeitlich seine Meinung geändert habe. Die von dem Patienten im Vorfeld einer schweren Erkrankung verfügte Begrenzung medizinischer Behandlungsmaßnahmen ist somit also zu befolgen. In diesen Fällen darf dann auch kein gesetzlicher Stellvertreter ("Betreuer") für den Patienten bestellt werden, denn der Patient hat in dieser Frage per Vorausverfügung selbst entschieden.
Bei "Entscheidungen am Lebensende" kommt die Bestellung eines Betreuers nach Rechtweisung des BGH vielmehr überhaupt nur dann in Betracht, wenn entweder allenfalls von einem "mutmaßlichen" - und damit interpretationsbedürftigen - Patientenwillen ausgegangen werden kann, oder aber, wenn tatsächlich unklar sein sollte, ob die Bedingungen für eine im voraus verfügte Behandlungsbegrenzung (bereits) erfüllt sind.
Dann jedoch muss ein entsprechend legitimierter Stellvertreter den Willen des Patienten ermitteln und ggf. auslegen. Aber auch in diesen Fällen hat sich der Betreuer in erster Linie von dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten leiten zu lassen - und diesen durchzusetzen. Dies gilt - so der BGH - ausdrücklich und insbesondere auch dann, wenn der Wille des Patienten mit hinreichender Sicherheit auf eine Behandlungsbegrenzung gerichtet sein sollte.
Ad 2: Eine zusätzliche vormundschaftsgerichtliche Genehmigungspflichtigkeit einer Behandlungsbegrenzung kommt - so das eindeutige Votum des BGH - nur in "Konfliktfällen" in Betracht; insbesondere also, wenn ein Stellvertreter im Namen des Patienten eine Behandlungsbegrenzung fordert, der behandelnde Arzt aber dieser Forderung nicht nachkommen will. Die von den Kritikern der BGH-Entscheidung aufgestellte Behauptung, faktisch jede medizinische Behandlungsbegrenzung bedürfe nunmehr einer vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung, ist klar unzutreffend. Zudem wird eine dahingehende Auslegung der BGH-Entscheidung offenkundig auch weder durch die Mehrheit der sachkundigen Rechtspflege, noch durch die Mehrheit der deutschen Ärzteschaft geteilt.
Auch in diesen Konfliktkonstellationen ist schließlich - so der BGH - für den Betreuer, den Arzt und das Vormundschaftsgericht in erster Linie der Wille des Patienten maßgeblich. Der Arzt muss darüber hinaus sein Festhalten an einer "angebotenen Behandlung" auf Grundlage medizinisch objektiver Kriterien begründen. Dabei stehen jedoch - so der ergänzende Hinweis der Lübecker Kommentatoren - im Zusammenhang mit "Patientenverfügungen" und "Entscheidungen am Lebensende" im Allgemeinen überhaupt nur noch solche Behandlungsmaßnahmen zur Diskussion, deren Aussichten auf einen Behandlungserfolg objektiv als gering bis extrem gering einzuschätzen sind. Auf dieser Grundlage kann jedoch - so die nochmalige, ausdrückliche Klarstellung des BGH - durchaus nicht ohne weiteres von einem subjektiven Patientenwillen ausgegangen werden, der unbedingt auf eine Weiterbehandlung "um jeden Preis" gerichtet ist.
Insofern hat der BGH durch seine Grundsatzentscheidung die Möglichkeit für betroffene Patienten und deren ggf. vorhandene Stellvertreter nachhaltig erleichtert, ethisch, rechtlich und nicht zuletzt auch medizinisch sehr wohl vertretbare Behandlungsbegrenzungen (notfalls gerichtlich) durchzusetzen.
Ad 3: Schließlich hat der BGH nochmals auch viele weitere, wichtige Hinweise darauf gegeben, unter welchen Umständen Behandlungsbegrenzungen und -verzicht medizinisch, ethisch und juristisch zu rechtfertigen sind. Auf dieser Grundlage können - und müssen - vor allem die behandelnden Ärzten die entsprechenden, emotional für alle Beteiligten oft sehr belastenden Entscheidungen auf einer rationalen Grundlage sowie in transparenter Weise moderieren.
Vor diesem Hintergrund erscheint die zusätzliche, gesetzliche Verankerung der Patientenverfügung zwar auch nach Auffassung der Lübecker Arbeitsgruppe im Prinzip durchaus erwägens- und unter Umständen auch wünschenswert. Sie ist nunmehr jedoch keineswegs derart unverzichtbar, wie die Kritiker der BGH-Entscheidung behaupten.
Angesichts der zumeist vollkommen überzogenen Kritik an dem Spruch des BGH warnen die Lübecker Sachverständigen die Öffentlichkeit, die Ärzteschaft und die Rechtspolitik insbesondere vor einem unsachlichen Umgang mit den Themenkomplexen "Patientenverfügungen" und "medizinische Entscheidungen am Lebensende".
Exemplarisch weisen sie darauf hin, dass unter denjenigen, die den BGH in jüngster Zeit besonders nachhaltig kritisiert und ein unverzügliches Tätigwerden des Gesetzgebers gefordert hatten, nicht wenige sind, die mit ihrer Kritik rechts- und gesellschaftspolitisch möglicherweise durchaus andere Ziele verfolgen, als sie öffentlich vorgeben: Etliche der schärfsten Kritiker des BGH sind vielfach ausgewiesene Befürworter einer allenfalls sehr eingeschränkten Bedeutung von Patientenverfügungen.
So fordern einige von diesen de facto, dass es auch weiterhin grundsätzlich möglich sein müsse, sich z.B. als Arzt auch einseitig über eine entsprechende Verfügung eines nicht mehr selbst Entscheidungsfähigen hinwegzusetzen ("mutmaßlicher Widerruf").
Andere Kritiker bestreiten die Zulässigkeit einiger medizinischer Behandlungsbegrenzungen - wie beispielsweise den Verzicht auf "künstliche Ernährung" - überhaupt.
Wieder andere Gegner der BGH-Entscheidung halten schließlich einen so genannten "kommunikationsethischen Ansatz" oder gar eine gesetzlich festgelegte "Pflichtberatung" für legitim. Diese ist jedoch tatsächlich nur im Sinne einer freiwilligen Beratung sinnvoll, wünschenswert und zulässig. Eine "Pflichtberatung" würde dem gegenüber bedeuten, einen ethisch durchaus problematischen, medizinisch im Allgemeinen unverhältnismäßigen und schließlich auch juristisch ebenso systemfremden wie unzulässigen Rechtfertigungsdruck auf die Betroffenen auszuüben.
Vor diesen Hintergründen liegt - so die Lübecker Arbeitsgruppe - durchaus der Eindruck nahe, dass unter dem Vorwand, die allgemein zunehmend anerkannte Bedeutung der Patientenverfügung weiter stärken zu wollen, von einigen Diskussionsteilnehmern versucht werden könnte, im Zusammenhang mit einer Gesetzgebungsdebatte eine tatsächliche Einschränkung der nunmehr höchstrichterlich anerkannten Selbstbestimmungsrechte des Patienten durchzusetzen.
Auch eine weitere Erschwerung der Moderation der ohnehin bereits extrem komplexen und vielschichtigen "Entscheidungen am Lebensende" ist dann jedoch zu befürchten: Insbesondere weisen die Lübecker Sachverständigen darauf hin, dass der zum Teil unverhohlene Versuch, die Patientenverfügung rechtspolitisch als "Einführung der aktiven Euthanasie durch die Hintertür" zu diskreditieren, vollkommen an der Sachlage vorbei geht. Palliativmedizinisch, ethisch und juristisch ist unstrittig, dass es sich bei den hier zur Diskussion stehenden Maßnahmen um zulässige, ja meist objektiv gebotene "Entscheidungen am Lebensende" im Sinne einer allenfalls "passiven" oder "indirekten" "Hilfe im Sterben" handelt. Diese stellen damit jedoch ebenso unstrittig einen ganz anderen Tatbestand dar, als die "aktive Sterbehilfe". Folgerichtig gibt es für derartige Argumentationen und Initiativen weder unter Ärzten, Juristen und Politikern, geschweige denn unter den betroffenen Patienten und deren Angehörigen auch nur ansatzweise eine rechts- und gesellschaftspolitische Mehrheit. Vielmehr besteht - so die übereinstimmende Mahnung der Mitglieder des interdisziplinären Lübecker Forschungsschwerpunktes - ein eher größeres Risiko, sich eine rechtspolitisch wenig wünschenswerte "Euthanasiedebatte" gerade eben dadurch einzuhandeln, dass man - auf Grundlage letztlich rein weltanschaulich begründeter Argumentationen einer Minderheit - die Geltendmachung von Selbstbestimmungsrechten am Ende des Lebens fortwährend zu relativieren trachtet.
Dr. med. Meinolfus Strätling
für die Ukraine