Es geht um die Anwendung und Erprobung von Medikamenten an Minderjährigen und Erwachsenen.
Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Psychiatrien und Heimen der Behindertenhilfe in Schleswig-Holstein wurden in den Jahren zwischen 1949 und 1975 für Medikamenten-Tests herangezogen. Deren Umfang und Vorgehensweise hat ein interdisziplinäres Untersuchungsteam unter der Leitung von Prof. Cornelius Borck wissenschaftlich aufgearbeitet und kommt zu einem Ergebnis, das auf rund 230 Seiten eine flächendeckende Praxis solcher Versuche offengelegt hat. Die Studie eines Teams von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des IMGWF ist heute Thema im Sozialausschuss des schleswig-holsteinischen Landtags.
Studienleiter Cornelius Borck hält fest, dass landesweit mindestens 3000 Betroffene Anwendungsstudien und Medikamentenerprobungen ausgesetzt wurden. Die Folgen waren mitunter gravierend, wie die wissenschaftlichen Mitarbeiter Christof Beyer und Jonathan Holst Akten von damaligen Patientinnen und Patienten entnehmen konnten. Ethische Bedenken ließen sich bei den damals handelnden Medizinerinnen und Medizinern kaum feststellen. Die Verantwortlichen von damals haben heute keine strafrechtlichen Folgen mehr zu befürchten: Eventuelle Straftatbestände sind längst verjährt.
In den Aufzeichnungen, die Beyer und Holst für ihre Studie durchsuchten, ist von teilweise gravierenden Nebenwirkungen zu lesen. Das Studium zahlreicher Schriftstücke und Quellen brachte insgesamt 75 Medikamentenerprobungen und Anwendungsbeobachtungen ans Tageslicht. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, ist sich Studienleiter Prof. Cornelius Borck sicher.
Prof. Cornelius Borck freut sich, die mit seinem Team erarbeiteten wichtigen Ergebnisse jetzt der Öffentlichkeit vorstellen zu können: „Das wichtigste Ergebnis für uns war, dass die Medikamentenversuche keine geheime Praxis waren, die irgendwie vertuscht wurde. Ganz im Gegenteil sind bis heute die wichtigsten Informationen die Publikationen der Ergebnisse aus der damaligen Zeit. Die Versuche fanden im Wissen der Beteiligten statt, teilweise aus der Hoffnung heraus, neue therapeutische Angebote machen zu können, zusammen mit der Gabe auch schon zugelassener Medikamente hatten sie vor allem das Ziel, den Alltag der Patientinnen und Patienten leichter regulieren zu können. Das ist der eigentliche Skandal: die Haltung, dass Behinderte und psychisch kranke Menschen ein durch Wegsperren und medikamentöse Beruhigung zu „lösendes“ Problem sind. Wie wir mit diesen Menschen angemessen umgehen, so dass sie wirklich teilhaben können am Leben in unserer Gesellschaft, bleibt auch heute noch eine wichtige und schwierige Aufgabe.“
Den damaligen CDU-geführten Landesregierungen in Schleswig-Holstein waren diese Vorgänge grundsätzlich bekannt. Dabei wurden Medikamentenprüfungen auch dazu genutzt, den Medikamentenetat der Landeskrankenhäuser zu entlasten. Auch auf dem Campus der heutigen Universität zu Lübeck, der damals noch zum Städtischen Krankenhaus gehörte, wurden Medikamente erprobt, auch wenn sich dies im Vergleich zu anderen Einrichtungen in Schleswig-Holstein seltener nachweisen ließ. Ein Erklärungsansatz des Untersuchungsteams dafür ist, dass Krankenhäuser mit einer relativ kurzen Verweildauer psychiatrischer Patientinnen und Patienten nicht so „günstige“ Beobachtungsbedingungen wie die Anstalten boten.
Erst im Jahr 1976 wurde mit dem neuen Arzneimittelgesetz die Erprobung neuer Medikamente rechtlich klarer geregelt. Seither existieren umfangreiche rechtliche Vorschriften und genau ausdifferenzierte ethische Normen, wie neue Substanzen an welchen Probanden- und Patientengruppen zur Erprobung eingesetzt werden können, die laufend weiter aktualisiert werden.
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