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Dienstag, 08.09.2015

Forschung

Angewandte Chemie: Noroviren im Spotlight

Mit Hilfe seines Hüllproteins, das an Zuckerstrukturen bindet, dockt das Norovirus an die Wirtszelle an

Neue Forschungsergebnisse des Lübecker Instituts für Chemie - Wichtiger Schritt zu einem genaueren Verständnis des Infektionsmechanismus und der Entwicklung wirksamer Medikamente

Noroviren sind weltweit für den größten Teil nichtbakterieller Magen-Darminfektionen verantwortlich. Auch in Deutschland breitet sich dieser hochansteckende Erreger vor allem im Herbst und Winter immer wieder aus und kann innerhalb kürzester Zeit Tausende von Menschen infizieren. Diese leiden dann einige Stunden bis Tage unter schwallartigem Erbrechen und Durchfällen, die bei Kleinkindern und älteren oder kranken Personen zu lebensgefährlichen Komplikationen führen können. Eine Impfung oder einen Wirkstoff gegen Noroviren gibt es derzeit nicht.

Der Mechanismus der Norovirusinfektion steht daher im Fokus aktueller Forschung. Weltweit versuchen Wissenschaftler im Detail zu verstehen, wie etwa das Virus in die von ihm befallenen Zellen eindringt.

Im Rahmen eines von der Europäischen Union geförderten Projekts und in Kooperation mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg und dem Heinrich-Pette-Institut in Hamburg untersuchen Dr. Alvaro Mallagaray und Prof. Dr. Thomas Peters vom Institut für Chemie der Universität Lübeck die Bindung eines Eiweißstoffes, der auf der Oberfläche von Noroviren zu finden ist, an Zuckerstrukturen auf der Oberfläche von Wirtszellen. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Angewandte Chemie" berichten sie über einen völlig neuen hochkomplexen Bindungsmechanismus, der in Widerspruch zu bisher bekannten Modellen steht.

„Unsere Ergebnisse sind ein großer Schritt hin zu einem besseren Verständnis der Norovirusinfektion. Sie eröffnen ganz neue Perspektiven für die Entwicklung von Medikamenten, die das Eindringen von Noroviren in Wirtszellen verhindern“, sagt Dr. Alvaro Mallagaray, Hauptautor der Studie. Bestätigt wird er durch die Gutachter der "Angewandten Chemie", die die im Artikel beschriebenen Ergebnisse  als wissenschaftlich sehr bedeutend bezeichnen –  weit weniger als zehn Prozent der eingereichten Arbeiten werden in gleicher Weise positiv beurteilt.

  • Mallagaray, A., Lockhauserbäumer, J., Hansman, G.S., Uetrecht, C. and Peters, T. (2015): "More than binding - Attachment of norovirus to histo blood group antigens is a cooperative multistep process". Angew. Chem. Int. Ed., im Druck (DOI: 10.1002/anie.201505672 und 10.1002/ange.201505672)

Hintergrundinformationen

Noroviren sind seit Jahren auf dem Vormarsch und mittlerweile die Hauptursache für nicht-bakterielle gastrointestinale Infektionen. Norovirusinfektionen sind hochansteckend - es reichen wenige Viruspartikel, um eine Person zu infizieren. Leider sind Noroviren auch recht stabil, so dass sie in verschiedenen Umgebungen längere Zeit unbeschadet überdauern können. Überall dort, wo größere Menschenansammlungen zu finden sind - also etwa auf Kreuzfahrtschiffen, in Schulen oder in Krankenhäusern - breitet sich die Infektion extrem rasant aus. Daher werden Noroviren in den USA auch als "Category B Biodefense Agents" eingestuft. Der wirtschaftliche Schaden, der infolge eines epidemischen Norovirusausbruchs entsteht ist im Regelfall erheblich.

Noroviren zählen zu der Familie der Caliciviren und beherbergen eine Plusstrang RNA, die das eigentlich infektiöse Material darstellt. Damit das infektiöse Material in eine Wirtszelle eindringen kann, muss das Virus zunächst an die Wirtszelle "andocken". Dies bewerkstelligen Noroviren mit Hilfe ihres Hüllproteins, dem VP1, das an Zuckerstrukturen auf der Oberfläche der (noch unbekannten) Wirtszellen bindet. Bei diesen Zuckerstrukturen handelt es sich um sogenannte Blutgruppendeterminanten, also Strukturen, die die Blutgruppe eines Menschen bestimmen. Es ist bekannt, dass diese Blutgruppendeterminanten und verwandte Zuckerstrukturen in großen Mengen und in immenser Vielfalt in Muttermilch zu finden sind. Es ist dokumentiert, dass Muttermilch einen Schutz gegen die Norovirusinfektion bietet.

Dies legt den Schluss nahe, dass Medikamente, die ähnlich wie die natürlichen Zuckerstrukturen an die Viren binden, den Eintritt der Viren in die Wirtszellen verhindern können, indem sie das virale Hüllprotein blockieren. Grundlage für eine entsprechende Wirkstoffentwicklung wären detaillierte Kenntnisse über Struktur und Dynamik der Komplexe aus Norovirushüllprotein und Zuckerstrukturen. Es gibt aus den vergangenen Jahren einige kristallographische Arbeiten, die Bindungsstellen auf der Oberfläche der Viren ausgemacht haben. Nach gängiger Lehrmeinung sind diese Bindungsstellen äquivalent und unabhängig voneinander.

Eine neue, sehr umfassende Studie aus dem Institut für Chemie der Universität zu Lübeck zeigt nun, dass die Virushülle erhebliche Plastizität aufweisen muss, was unter anderem eine stufenweise, kooperative Zuckerbindung zur Folge hat. Dies ließ sich durch eine Kombination von hochauflösender NMR-Spektroskopie, Massenspektrometrie und Kristallographie überzeugend nachweisen.

Darüberhinaus gibt es mindestens doppelt so viele Bindungsstellen auf der Virusoberfläche wie bisher vermutet. Die Viren können so die Bindung an Glycoproteine oder Glycolipide auf Wirtszelloberflächen in Abhängigkeit von der Dichte und der Art der Präsentation dieser Moleküle sehr genau steuern. Was genau diesem ausgeklügelten Mechanismus zugrunde liegt, ist bisher nicht bekannt. Auch die Frage danach, welche Vorteile diese Art des Fine-Tunings für die Viren mit sich bringt, ist unbeantwortet. Klar ist aber, dass die Entwicklung neuer Medikamente von diesen Erkenntnissen profitieren sollte.

Dr. Alvaro Mallagaray (37) forscht und lehrt an der Universität zu Lübeck im Institut für Chemie von Prof. Thomas Peters. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf der Charakterisierung von Norovirus-Rezeptor-Interaktionen. Mallagaray studierte Pharmazie und Chemie an der CEU San Pablo Universität in Madrid und promovierte dort in Medizinalchemie. Nach Forschungsaufenthalten am Zentrum für Biologische Forschung (Madrid) und an der Monte St. Angelo Universität in Neapel wechselte Dr. Alvaro Mallagary 2013 als Marie-Curie-Stipendiat an das Institut für Chemie der Universität zu Lübeck und ist dort seit 2015 als Wissenschaftler angestellt.

Besseres Verständnis der Infektionsmechanismen beim Norovirus

Dr. Alvaro Mallagaray