Die Dosis macht nicht immer das Gift
Gen-Kopie-Veränderungen wie Deletionen und Duplikationen tragen in hohem Maße zur genetischen Vielfalt des menschlichen Genoms bei und sind daher von großer Bedeutung für die Krebsgenetik, seltene Krankheiten und die Evolutionsgenetik. Diese genetischen Varianten werden in erster Linie auf der Grundlage ihrer Auswirkungen auf die Gen-Dosis interpretiert.
Unter Gen-Dosis versteht man die Tatsache, dass alle menschlichen Gene in zwei Kopien vorliegen, eine väterliche und eine mütterliche Kopie. Durch Deletionen geht eine Kopie verloren und man geht in der Regel von einem 50% Verlust der Gen-Dosis aus. Bei einer Duplikation kommt eine dritte Gen-Kopie hinzu und man geht von einer erhöhten Gen-Dosis aus. Beide Veränderungen können zu Erkrankungen führen.
Bekannt ist, dass Deletionen und Duplikationen auch die Faltung der DNA im Zellkern im dreidimensionalen Genom verändern können. So können durch Deletionen DNA-Abschnitte zusammengefügt werden, die eigentlich nicht zusammengehören. Dadurch kann ein Gen unter die Kontrolle von fremden, gewebespezifischen Enhancern (Schaltern) kommen, und es kommt zur Expression eines Gens im falschen Gewebe, was zu Erkrankungen führen kann. Man spricht von Positions-Effekten. Trotz dieser neuen Daten bleibt die funktionelle Interpretation, ob eine Erkrankung das Ergebnis einer Gen-Dosis oder eines Positions-Effekts ist, eine Herausforderung.
Studie aus Lübeck und Poznan zeigt: Auswirkungen von Duplikation und Deletion müssen berücksichtigt werden
In einer neuen Studie unter der Leitung von Prof. Malte Spielmann, Institut für Humangenetik der Universität zu Lübeck, und Prof. Alexander Jamsheer, von der Medizinischen Universität in Poznan, wurde nun untersucht, ob Duplikationen auch zu Positions-Effekten führen können, oder ob sie ausschließlich die Gen-Dosis verändern. „Im klinischen Alltag werden Deletionen und Duplikationen ausschließlich auf die Gen-Dosis untersucht. Unsere Daten zeigen jedoch, dass die Dosis nicht immer das Gift macht“, erklärt Prof. Malte Spielmann.
Über das Vorgehen
Das Team aus Forscherinnen und Forschern der beiden Universitäten untersuchte Deletionen und Duplikationen bei Patienten mit angeborenen Fehlbildungen der Arme und Beine. Bei zwei Patienten mit einer beidseitigen Hypoplasie (starken Verkürzung) der Oberschenkelknochen konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Duplikationen auf Chromosom 10q24.32 nachweisen, welche das FGF8 Gen beinhalten. Durch die Duplikation wurde auf einem Allel eine zweite Kopie von FGF8 direkt hinter das Original eingebracht (Tandemduplikation) und die Kopien-Anzahl von FGF8 auf drei erhört. Da FGF8 ein wichtiger Regulator der Extremitäten-Entwicklung ist, erschien ein Gen-Dosis Effekt als sehr wahrscheinlich.
Um diese genetischen Varianten funktionell zu charakterisieren, hat das Team die Duplikationen mit Hilfe der CRISPR-Cas9 Gen-Schere in Mäusen nachgebildet. Wie erwartet fanden die Autoren heraus, dass die Duplikationen zu einer erhöhten FGF8-Expression führten, und die transgenen Mäuse, die die drei Kopien FGF8 tragen, eine proximale Verkürzung der Gliedmaßen zeigten, die dem menschlichen Phänotyp stark ähnelte. Um herauszufinden, ob der Phänotyp eine Folge der Gen-Dosis ist, erzeugten Spielmann und seine Kollegen als Kontrolle eine weitere transgene Mäuselinie, welche eine Duplikation auf einem Allel und eine gleichzeitige FGF8-Deletion auf dem anderen Allel trug. Durch diesen genetischen Trick wurde die Gen-Dosis von FGF8 auf zwei Kopien reduziert. Gleichzeitig blieb die Tandemduplikation auf dem anderen Allel erhalten.
Überraschenderweise wurden bei diesen Mäusen die gleichen Fehlbildungen beobachtet. Weitere genetische Untersuchung konnten zeigen, dass die Tandemduplikation zu einer erhöhten Expression von FGF8 führt, obwohl nur zwei Kopien von FGF8 vorliegen. Daher ist die erhöhte Expression von FGF8 und damit auch die Erkrankung höchstwahrscheinlich das Ergebnis von Positions-Effekten, die die FGF8-Expression verändern, und nicht die Gen-Dosis. Diese Daten zeigen, dass die Auswirkungen von Duplikation und Deletion auf die Regulation der Genexpression bei der Interpretation des pathogenen Potenzials dieser Varianten berücksichtigt werden muss.
Da Duplikation und Deletion im besonderen Maße bei der Entstehung von Krebs eine Rolle spielen, haben diese Ergebnisse nicht nur einen Einfluss auf die Erforschung von seltenen Erkrankungen, sondern auch im besonderen Maße für ein besseres Verständnis und die Entwicklung potenzieller Therapien von Krebs.
Originalpublikation:
https://www.cell.com/ajhg/fulltext/S0002-9297(21)00300-1
Kontakt:
Prof. Dr. med. Malte Spielmann, Universität zu Lübeck, Institut für Humangenetik, Ratzeburger Allee 160, 23562 Lübeck, Tel.: +49/451/3101 8851, Email: malte.spielmann@uni-luebeck.de
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