Website
Aktuelles
Mittwoch, 29.06.2022

Forschung

Neue molekulare Details aus der Norovirus-Forschung

Kristallstrukturmodell der Maus-Norovirus P-Domäne (Creutznacher et al. 2022)

Wie Noroviren Wirtszellen kapern: Lübecker Forscherteam entdeckt molekularen Schalter in der Virushülle

Noroviren sind hochansteckende Erreger, die weltweit für mehr als 600 Millionen Fälle von viraler Magen-Darm-Grippe pro Jahr verantwortlich sind. Es gibt derzeit weder einen Impfstoff noch ein Medikament. Obwohl Noroviren relativ "einfach" aufgebaut sind, ist über den Infektionsvorgang, d.h. die Freisetzung des viralen Erbguts in die Zelle, nach wie vor wenig bekannt. Die Lübecker Forscherinnen und Forscher um Stefan Taube vom Institut für Virologie und Zellbiologie und Thomas Peters vom Institut für Chemie und Metabolomics der Universität zu Lübeck haben einen molekularen Schaltvorgang sichtbar gemacht, der für das Eindringen und die Freisetzung des viralen Erbguts in die Zelle von Bedeutung ist. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Communications Biology veröffentlicht.

Noroviren sind ein Graus für Kitas, Krankenhäuser und Altenheime. Sie zählen zu den häufigsten Erregern der klassischen Magen-Darm-Grippe, sind hochansteckend und die Symptome sind meist unangenehm und heftig. Auch wenn eine Norovirus-Infektion in den allermeisten Fällen nicht lebensbedrohlich verläuft, so stellt sie eine erhebliche Belastung für die Gesundheitssysteme dar, da derzeit keine zugelassenen Impfstoffe oder antivirale Therapien zur Verfügung stehen.

Prof. Stefan Taube vom Institut für Virologie und Zellbiologie und Prof. Thomas Peters vom Institut für Chemie und Metabolomics der Universität zu Lübeck konnten mit ihrem Forschungsteam erstmals einen dynamischen Vorgang von Proteinen in der Virushülle verfolgen, der für das Andocken an die Wirtszelle von Bedeutung ist.

Molekulare Details der Virushülle

Dass Viren für das Infizieren einer Zelle mit Proteinen in ihrer Virushülle an die Wirtszelle andocken, ist durch die Coronapandemie mittlerweile Vielen bekannt. Ähnlich dem SARS-CoV-2 Spike-Protein verfügt auch das Norovirus über eine hervorstehende Struktur auf der Oberfläche, die Teil eines Hüllenproteins ist und als  P-Domäne (englisch: "protruding domain“) bezeichnet wird. Noroviren nutzen diese P-Domänen zum Andocken an die Wirtszelle. Während der Immunreaktion gegen das Norovirus kann der infizierte Organismus neutralisierende Antikörper gegen die P-Domänen ausbilden, die diesen Vorgang erfolgreich sabotieren können.

Über P-Domänen des Norovirus ist bekannt, dass sie für das Andocken an die Wirtszelle Zweierpärchen, sogenannte P-Dimere, bilden. Mittels hochauflösender Kernspinresonanzspektroskopie (NMR) und nativer Massenspektrometrie konnten Robert Creutznacher, mittlerweile Postdoktorand an der Universität Utrecht, und Thorben Maaß, Doktorand am Institut für Chemie und Metabolomics nun erstmals die Stabilität und die Geschwindigkeit der Dissoziation, d.h. des Zerfalls der P-Dimere messen. Beim Vergleich zur Norovirus-Infektion der Maus fanden die Forscher heraus, dass P-Dimere des Maus-Norovirus - obwohl strukturell äußerst eng verwandt mit den menschlichen P-Dimeren - etwa eine Million Mal schneller dissoziieren als ihre menschlichen Pendants. Während die Halbwertszeit der P-Dimere beim Menschen im Bereich von Tagen liegt, dissoziieren die P-Dimere der Maus innerhalb von Sekunden. 

Wirtsmoleküle als Infektionshilfe

Dass Noroviren wirtseigene Moleküle gezielt nutzen, um Wirtszellen effektiver zu infizieren, konnte in früheren Studien für Gallensäuren bereits belegt werden. Gallensäuren, wie die Glycochenodesoxycholinsäure (GCDCA), sind in großer Zahl im Magen-Darmtrakt von Menschen und Mäusen zu finden. Das Forschungsteam konnte nun zeigen, dass die Bindung von Gallensäure an P-Dimere der Maus zu einer enormen Stabilisierung führen. „Dies zeigt, dass unsere bisherige Vorstellung der Virushülle als statisches Objekt unzureichend ist und dass die Norovirushülle dynamisch auf Einflüsse aus der Umwelt des Wirtsorganismus reagieren kann.“ erklärt Dr. Robert Creutznacher, Erstautor der Studie.

Molekularer Schalter als therapeutisches Ziel

Die Forscherinnen und Forscher sehen in dem Dissoziationsvorgang und dessen Geschwindigkeit einen wichtigen und möglicherweise modulierbaren molekularen "Schalter" für die Freisetzung des viralen Erbguts in die Wirtszelle. Sie erhoffen sich in nachfolgenden virologischen Studien auf dieser Basis neue therapeutische Ansatzpunkte für die Bekämpfung von Norovirus-Infektionen.

Originalpublikation:
Creutznacher, R., Maass, T., Dülfer, J. et al. Distinct dissociation rates of murine and human norovirus P-domain dimers suggest a role of dimer stability in virus-host interactions. Commun Biol 5, 563 (2022).

 

Ansprechpartner:

Prof. Dr. Thomas Peters
Direktor des Instituts für Chemie und Metabolomics
Universität zu Lübeck

thomas.peters(at)chemie.uni-luebeck(dot)de 
Tel: +49 451 3101-3300

Dr. Robert Creutznacher (l.) und Prof. Thomas Peters (r.), Erst- und Letztautor der Publikation (Foto: Thorsten Biet, Universität zu Lübeck)