Aktueller Gesetzentwurf der Bundesregierung folgt Lübecker Empfehlungen
Am 5. November 2004 hat Bundesjustizministerin Brigitte Zypries einen Entwurf zur gesetzlichen Regelung der so genannten Patientenverfügung vorgelegt. Mit diesem Entwurf folgt ihr Ministerium Empfehlungen, deren wissenschaftliche Grundlagen maßgeblich von einer interdisziplinären Forschungsgruppe der Universität zu Lübeck erarbeitet wurden.
Zuvor hatten sich bereits eine Reihe weiterer Expertengremien, Fachorganisationen, Gerichtshöfe sowie Patientenorganisationen, Sozialverbände und Hospizinitiativen in ihren einschlägigen Stellungnahmen wesentlich auf die umfangreichen Analysen der Lübeck-Kieler Arbeitsgruppe bezogen. Darunter befinden sich u.a. der 63. Deutsche Juristentag (2000), verschiedene Ärztekammern (2001, 2003, 2004), der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (2003) sowie Expertengruppen der Akademie für Ethik in der Medizin (1998, 2003), der Justizministerkonferenz der Länder (2002 - 2004) und des Bundesjustizminsteriums [Arbeitsgruppe "Autonomie am Lebensende" ("Kutzer-Kommission") (2004)]. In Bezug auf Patientenverfügungen sowie stellvertretende Entscheidungen bei medizinisch besonders risikobehafteten Maßnahmen und am Lebensende hatte sich dabei in den vergangenen Jahren zunehmendes, interdisziplinäres Einvernehmen in der Beurteilung der hier unter medizinischen, ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten maßgeblichen Fragen eingestellt.
Für den interdisziplinären Forschungsschwerpunkts "Ethik, Recht, Geschichte und Didaktik im Spektrum der klinischen Medizin" der Universität zu Lübeck nimmt Dr. med. Meinolfus Strätling zu dem aktuellen Entwurf wie folgt Stellung:
"Der nunmehr entwickelte Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums (BMJ) befindet sich im Einvernehmen mit den unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten weit vorherrschenden Lehrmeinungen im Diskursspektrum aller beteiligten Fachdisziplinen. Darüber hinaus betrifft der Entwurf des BMJ in den wesentlichen Punkten ausschließlich Klarstellungen in Bezug auf in Deutschland bereits jetzt gültiges Zivilrecht sowie Konsequenzen für die Rechtsfortentwicklung, die sich aus verfassungsrechtlicher (sowie höchstrichterlich bereits anerkannter) Sicht geradezu zwingend für den Gesetzgeber ergeben: Die Bundesministerin für Justiz hatte also in diesen Fragen objektiv überhaupt nur sehr bedingt gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum, da eine Einschränkung der hier unmittelbar betroffenen Persönlichkeitsrechte von Patienten, deren Angehörigen und Stellvertretern sowie von Ärzten und Pflegenden kaum einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten würde. Mit den weitaus meisten Regelungsvorschlägen des nunmehr vorliegenden Gesetzentwurfes leistet das Justizministerium nun einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung dieser verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrechte des Patienten, der allgemeinen Rechtssicherheit, des Rechtsfriedens und des größtmöglichen, realistischerweise erreichbaren Grundrechtsschutzes der Betroffenen. Zugleich werden die Rahmenbedingungen verdeutlicht, unter denen Therapiebegrenzungen am Lebensende zulässig und geboten sind.Damit ist der Gesetzentwurf in seinen Kernpunkten sowohl aus Sicht der Patienten, ihrer Angehörigen und Stellvertreter, als ausdrücklich auch aus Sicht der breiten Mehrheit der Deutschen Ärzteschaft, der wissenschaftlichen Medizinethik und der Rechtspflege zu begrüßen.
Vor diesem Hintergrund nimmt der Lübecker Forschungsschwerpunkt die Bundesministerin und ihren Beraterstab vor voreiliger und großteils sachlich unberechtigter Kritik in Schutz, die bereits unmittelbar nach Veröffentlichung ihres Entwurfs geäußert worden ist. Insbesondere den heftigen Angriffen Seitens einiger Politiker(innen) aus der Enquete-Kommission "Ethik und Recht in der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages ist dabei entgegenzutreten: In deren eigenen Vorschlägen hatte sich diese mehrheitlich dafür ausgesprochen, die Gültigkeit der Patientenverfügung sowie die allgemeine Zulässigkeit der ärztlichen Therapiebegrenzung grundsätzlich auf die "Sterbephase im engerem Sinne" zu begrenzen, also auf medizinisch wirklich absolut terminale Zustände, bei denen bereits das Kriterium der unmittelbar absehbaren Todesnähe erfüllt ist. Darüber hinaus sollten rechtsformale Hürden errichtet werden, wodurch sowohl die Möglichkeiten, eine Patientenverfügung zu erlassen, als auch die Rahmenbedingungen für medizinische Entscheidungen am Lebensende massiv eingeschränkt würden. Mit diesen Forderungen stellte sich die Bundestagsenquete insgesamt also klar gegen die Empfehlungen, die inzwischen - mit meist nur noch eher geringen Nuancen - von praktisch allen übrigen medizinischen, juristischen, ethischen und interdisziplinären Fachgesellschafen und Expertenkommissionen entwickelt worden waren. Zudem entspricht die Zielsetzung, in diesen Fragen die für alle Beteiligten dringend notwendigen Klarstellungen zu erreichen, auch den (gesellschafts)politischen Anliegen sowohl der breiten Mehrheit der Deutschen Bevölkerung, als ausdrücklich auch der Ärzteschaft: Das "Mehrheits-Votum" der Bundestagsenquete stellt somit sowohl im Spektrum der interdisziplinären, wissenschaftlichen Diskussion, als auch im rechts- und gesellschaftspolitischen Gesamtkontext tatsächlich also ein Minderheitenvotum dar. Dieser auffällige Befund bedarf, gerade auch im Rahmen der Wahrnehmung einer gesamt-gesellschaftspolitischen "Ethik der Verantwortung" durch die Deutsche Ärzteschaft, einer aufmerksamen Analyse.
Fehlerhaftes Verständnis medizinischer Entscheidungen am Lebensende
Das entscheidende, vielfach erklärte Ziel aller Empfehlungen der Enquete-Kommission zur Einschränkung der Gültigkeit der Patientenverfügung sowie der Zulässigkeit der medizinischen Behandlungsbegrenzung ist, einen denkbaren Missbrauch im Sinne einer unzulässigen "aktiven Sterbehilfe" möglichst sicher zu verhindern. Dieses Anliegen als solches ist, gerade aus ärztlicher Sicht, zweifellos anerkennens- und unterstützenswert. Zugleich offenbaren die Ausführungen der Kommission hierzu jedoch auch den entscheidenden Irrtum, der ihr bei der Erörterung dieser Fragen unterlaufen ist: Im Umgang mit Patientenverfügungen und medizinischen Entscheidungen am Lebensende geht es, im interdisziplinären Diskurs vollkommen unstrittig und nun auch nochmals von der Bundesministerin betont, um die individuelle und / oder die medizinisch hinreichend objektivierbare Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von Behandlungsversuchen, deren "Erfolgsaussichten" schon primär als gering bis extrem gering eingeschätzt werden müssen. Hier droht - aus medizinisch, ethisch und persönlichkeitsrechtlich übereinstimmender Sicht - viel eher also das Risiko, dass der individuell betroffene Patient - oder sogar ganze Patientenkollektive - mit schon empirisch extrem viel höherer Wahrscheinlichkeit und Häufigkeit eher geschädigt werden, als dass sie in irgendeiner Hinsicht von diesen Behandlungsversuchen profitieren. Die - zumal fremdnutzenorientierte - bewusste Tötung von Patienten im Sinne der "aktiven Sterbehilfe" steht somit also bei der Beurteilung solcher "Behandlungsversuche" gar nicht zur Debatte. Die Entscheidung, ein denkbares aber schon prognostisch sehr fragwürdiges "Behandlungsangebot" auf Grundlage einer allenfalls "relativen Indikationsstellung" nicht (mehr) anzubieten, weil es entweder dem Willen des Patienten nicht entspräche, und / oder weil es auf Grundlage medizinisch hinreichend objektivierbarer Kriterien als nicht mehr sinnvoll oder verhältnismäßig anzusehen wäre, ist somit also in erster Linie und mit weitem Abstand eine medizinische Entscheidung über den Sinn oder den Unsinn einer denkbaren Behandlungsmaßnahme angesichts der letztlich unvermeidlichen Endlichkeit des menschlichen Lebens - und nicht ein ethisches, rechtliches oder gar gesellschaftspolitisch-weltanschaulich motiviertes Urteil über den Grundwert des Lebens an sich, der in der bisherigen Diskussion in Deutschland vollkommen unbestrittenen ist. Vor diesem Hintergrund läuft der Vorstoß der Enquete auf eine in jeder Hinsicht höchst fragwürdige "gesetzlich verordnete Pflicht- oder gar Zwangsbehandlung im Vorfeld des Todes" hinaus: Diese müsste - entgegen der eigenen, meist sehr gut begründbaren Überzeugungen - von Patienten erduldet und von Ärzten durchgeführt werden. Dies würde jedoch eine schon medizinisch offenkundig unverhältnismäßige Einschränkung sowohl von Selbstbestimmungsrechten von Patienten, als auch der ärztlichen Berufsfreiheit darstellen und damit einer ethischen, (verfassungs)rechtlichen und (rechts- und gesellschafts)politischen Überprüfung keinesfalls standhalten.
Empirisch fehlerhafte Argumentationen
Bedenklich muss aus ärztlicher Sicht weiterhin stimmen, dass praktisch auch alle anderen, mit (angeblich) medizinisch-empirischen oder rechtstatsächlichen Erfahrungen gestützten Argumentationen der Kommission schon methodisch erheblich fehlerhaft sind und eindeutig widerlegt werden können.
Dies betrifft insbesondere
Ethische, rechts- und humanwissenschaftliche Einseitigkeit
Ebenfalls schon methodisch kritikwürdig erscheint schließlich, dass auch die vorwiegend ethisch-moralphilosophischen sowie grundrechts- und humanwissenschaftlichen Argumentationslinien der Enquete eine auffallend einseitige Ausrichtung aufweisen. Dies verwundert um so mehr, als dass die umfangreich ausgewiesene, interdisziplinäre Literaturlage, aus der die Schriftführung der Kommission diese Argumentationen abzuleiten vorgibt, ihre Schlussfolgerungen in ihrer breiten Mehrheit gerade eben nicht stützt: Hier wird sich die Mehrheit der schon in der Vergangenheit nicht immer durch hinreichend ausgewogene Stellungnahmen aufgefallenen (und daher inzwischen auch durchaus umstrittenen) Enquete-Kommission absehbar mit der kritischen Frage auseinander setzten müssen, ob sie ihrem Auftrag, den Bundestag auf der Grundlage ebenso umfassender wie objektiver Informationen und Analysen sachverständig zu beraten, mit diesem Positionspapier wirklich genüge geleistet hat, oder ob sie sich mehrheitlich von einzelnen Mitgliedern zu offenkundig weltanschaulich einseitig motivierter, der Sache insgesamt keinesfalls zuträglicher Agitation instrumentalisieren ließ.
Fazit
Zusammenfassend liegt vor diesen Hintergründen - bedauerlicher Weise - der Eindruck nahe, dass derzeit unter dem Vorwand, die inzwischen anerkannte Bedeutung der Patientenverfügung weiter stärken zu wollen, vor allem von der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages versucht wird, eine tatsächliche Einschränkung der Selbstbestimmungsrechte des Patienten durchzusetzen. Auch eine weitere Erschwerung der Moderation der ohnehin bereits extrem komplexen und vielschichtigen "Entscheidungen am Lebensende" ist dann aus ärztlicher Sicht zu befürchten. Insbesondere der unverholene Versuch, die Patientenverfügung rechtspolitisch als "Einführung der aktiven Euthanasie durch die Hintertür" zu diskreditieren, geht vollkommen an der Sachlage vorbei und ist entschlossen zurückzuweisen: Palliativmedizinisch, ethisch und juristisch ist vollkommen unstrittig, dass es sich bei den hier zur Diskussion stehenden Maßnahmen zur Behandlungsbegrenzung um zulässige, ja meist objektiv gebotene "Entscheidungen am Lebensende" im Sinne einer allenfalls "passiven" oder "indirekten" "Hilfe im Sterben" handelt. Diese stellen damit jedoch ebenso unstrittig einen ganz anderen Tatbestand dar, als die "aktive Sterbehilfe". Folgerichtig gibt es für die Argumentationen und Initiativen der Enquete weder unter Ärzten, Juristen und Politikern, geschweige denn unter den betroffenen Patienten und deren Angehörigen auch nur ansatzweise eine rechts- und gesellschaftspolitische Mehrheit. Die Enquete-Kommission und der Gesetzgeber seien daher - gerade aus ärztlicher Verantwortung - eindringlich darauf hingewiesen, dass derzeit zweifellos ein größeres Risiko besteht, sich eine wenig wünschenswerte "Euthanasiedebatte" gerade eben dadurch "einzuhandeln", dass man - auf Grundlage letztlich rein weltanschaulich begründeter Argumentationen einer Minderheit - die Geltendmachung von elementaren Selbstbestimmungsrechten am Ende des Lebens fortwährend zu relativieren trachtet: Ärzte und Patienten, die sich in Bezug auf die schwierigen und vielschichtigen Fragen am Lebensende gemeinsam und in differenzierter Weise ihrer (Selbst)Verantwortung stellen, verdienen die ebenso differenzierte und zielführende Unterstützung des Gesetzgebers und unserer Gesellschaft insgesamt. und nicht eine geradezu ungeheuerliche, persönliche Verunglimpfung, die ihnen unterstellt, bewusst oder auch nur in fahrlässiger Weise der Einführung der aktiven Sterbehilfe in Deutschland Vorschub zu leisten.
Von alledem hebt sich der von Bundesministerin Zypries nunmehr vorgelegte Gesetzgebungsentwurf in insgesamt erfreulich differenzierter, sachverständiger und weitgehend angemessener Weise ab. Auf allen rechts- und gesellschaftspolitisch notwendigen Ebenen kann er sich daher auch weiterhin einer differenzierten wissenschaftlichen Flankierung sowie einer ebenso breiten wie entschlossenen Unterstützung gewiss sein."
für die Ukraine