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Donnerstag, 31.01.2019

Forschung

Medizin in der Literatur der Neuzeit

Prof. Dr. Dietrich v. Engelhardt

Fünfbändiges Werk des Medizinhistorikers Prof. Dietrich v. Engelhardt

Prof. Dr. Dietrich v. Engelhardt, 1983 bis 2007 Direktor des Instituts für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte der Universität zu Lübeck, hat das fünfbändige Werk „Medizin in der Literatur der Neuzeit“ vorgelegt (Mattes Verlag, Heidelberg 2018). Der folgende Beitrag führt in den Inhalt des Werkes ein.

Von der Heilkraft des Lesens

Dietrich v. Engelhardt

Medizin gilt seit der Antike nicht nur als Wissenschaft (scientia), sondern immer auch als Kunst (ars). Allen Künsten – auch Lesen und Schreiben – wird Heilkraft zugeschrieben. Die Bezeichnungen sind heute wie in der Vergangenheit vielfältig; neben Bibliotherapie wird von Poesietherapie, Lesetherapie und Biblio-Counselling gesprochen.

Von Tragödien erwartet Aristoteles über die Erregung von ‘Jammern’ (éleos) und ‘Schrecken’ (phóbos) kathartische oder heilsame Auswirkungen auf Körper und Seele.  Die Bibel ist ein Grundwerk der Bibliotherapie – für Gebildete wie für Analphabeten, für junge wie alte Menschen, für Männer wie Frauen, für Arme wie Reiche. Das arabische Al-Mansur Hospital in Kairo bietet in jener Epoche neben Medikament und Operation auch die Lektüre des Korans als Therapeutikum an.

Zahlreiche theoretische Konzepte und Berichte über praktische Erfahrungen stammen im Verlauf der Neuzeit von Ärzten, Psychologen, Philosophen, Theologen und auch Schriftstellern – reich an Anregungen und Orientierungen für die Gegenwart und Zukunft.

In der Bundesrepublik Deutschland haben sich Musik- und Maltherapie bislang besser etabliert als Bibliotherapie. Über Patientenbüchereien verfügen viele, aber keineswegs alle Krankenhäuser. An verschiedenen Orten werden Kurse zur Aus- und Weiterbildung in Poesie- und Bibliotherapie angeboten. In Deutschland gibt es zur Zeit mehr als 2.000 Schreibwerkstätten.

Bibliotherapie steht – wie alle psychotherapeutischen Verfahren und kunsttherapeutischen Richtungen – vor dem Problem der Erfolgskontrolle der evidenzbasierten Medizin; Evidenz heißt aber nicht nur empirisch-statistischer Beweis, sondern ebenso unmittelbare Einsicht. Über die Heilkraft des Lesens entscheiden nicht nur äußerer Anschein oder physiologische Daten, sondern ebenso Selbstwahrnehmung des Kranken und Urteile der Therapeuten und Angehörigen. Auch Subjektivität besitzt einen objektiven Wert.   

Für die Bibliotherapie – wie alle kunsttherapeutischen Richtungen – sind sechs Dimensionen wesentlich: 1. Lesen in Gesundheit und Krankheit, 2. Einfluss der unterschiedlichen Krankheiten, 3. Abhängigkeit von der Therapieform, 4. Persönlichkeit des Kranken, 5. Vermittlung des literarischen Textes, 6. Berufsbild des Bibliotherapeuten.

Das Lesen des kranken Menschen hat seine Grundlage im Lesen des gesunden Menschen und hängt, abgesehen von physiologischen, psychologischen und sozialen Voraussetzungen, von Form und Inhalt des literarischen Textes ab. Der Inhalt kann real, fiktiv, phantastisch oder märchenhaft, die Handlung statisch oder dynamisch, emotional oder intellektuell, die Sprache prosaisch oder poetisch sein.

Bei der Lektüre spielen allgemeine Bedingungen des Krankseins eine wichtige Rolle. Interesse und Offenheit sind nicht selten im Zustand der Erkrankung erhöht, die Aufmerksamkeit wird zugleich meist verstärkt auf den eigenen Körper und die persönliche Situation gelenkt. Hinzukommen Bedingungen der besonderen Krankheitsart; Rheuma, Multiple Sklerose, Krebs, Hauterkrankungen, Verlust des Augenlichts oder Gehörs, Depression, Amputation, Organtransplantation, akute und chronische Krankheiten prägen auf jeweils charakteristische Weise Rezeption und Resonanz literarischer Texte.

Bibliotherapie kann in allen medizinischen Disziplinen Anwendung finden, hängt auch nicht von einer spezifischen psychologischen oder pädagogischen Richtung ab, entfaltet Möglichkeiten in Diagnostik und Therapie, Prävention wie Rehabilitation, in der Arzt-Patient Beziehung wie im Verhältnis des Patienten zu seiner Krankheit und seinen Angehörigen.  Die Erwartungen dürfen aber nicht übertrieben werden; Literatur kann Chirurgie nicht ersetzen, kann allerdings bei der Bewältigung von Operationen und medikamentöser Therapie hilfreich sein.

Literatur bedeutet Ablenkung oder Hinlenkung, kann als Vorbild oder Abschreckung dienen, kann zur Zerstreuung oder Sinnfindung beitragen, im Zusammenhang mit dem eigenen Leben und der Krankheit stehen oder gerade von diesen Situationen wegführen, kann konkrete Ziele der Krankheitsbewältigung entwerfen, auf wesentlich und beispielhafte Deutungen von Krankheit, Schmerz und Leiden, Sterben und Tod hinweisen.

Im Zentrum steht der kranke Leser, seine Persönlichkeit, seine soziale Herkunft, sein Alter und Geschlecht, seine Interessen, Intelligenz und Bildung. Zum Lesen und Schreiben kann – bei allen Unterschieden der Begabung, Neigung und Kenntnisse – jeder Mensch geführt werden. Mit der Befreiung von den alltäglichen Aufgaben bieten Krankheit und Krankenhaus hierfür sogar besonders günstige Gelegenheiten. Die Heilkraft des Lesens ist auch keineswegs nur an klassische oder hohe Literatur gebunden; als ebenso wirkungsvoll erweisen sich Trivialliteratur, Sachbücher, Reisebeschreibungen, Biographien, markante Zitate, einprägsame Aphorismen.

Wesentlich für den Erfolg der Bibliotherapie sind die Bedingungen des Angebotes, der Art der Vermittlung und Hinführung zu literarischen Texten. Dem Patienten können nicht nur Bibliothekskataloge in die Hand gedrückt und Bücherwagen an das Bett geschoben werden. Das Buch ist kein Medikament, wird nicht “verschrieben”. Ausschlaggebend sind Begleitung in der Lektüre und Anregung zum eigenen Lesen; das setzt unmittelbaren Kontakt und Bereitschaft zum Gespräch voraus, verlangt nach Empathie und Kommunikation. Weder Bibliothekar noch Literaturwissenschaftler, weder Psychologe noch Arzt sind mit ihrer klassischen Ausbildung bereits in der Lage, die Anforderungen zu erfüllen, die an einen Bibliotherapeuten zu stellen sind:  1. literarische Wissen, 2. sozialpsychologische Kenntnisse der Krankheiten und 3. vor allem empathisch-kommunikative Fähigkeiten.

Bibliotherapie oder Literatur als Heilkraft ist mit Herausforderungen nicht nur an den Arzt und Kranken, sondern ebenso die Familie, die Schule, die Gesellschaft, die Politik wie auch die Medien verbunden. Wenn nicht mehr gelesen und von Eltern und Lehrern nicht mehr zum Lesen angeregt wird, kann Lesen seine heilsame, therapeutische oder pädagogische Wirkung im Leben und auch im Umgang mit der Krankheit nicht mehr entfalten.

Literatur öffnet eine überzeitliche Welt oder 'immanente Transzendenz', die den einzelnen Menschen mit seiner Endlichkeit, Krankheit und Tod zu versöhnen vermag. Literatur ist ein allgemeines Bildungsmittel, trägt zum Selbstverständnis des Menschen und Verständnis der Welt bei. Bibliotherapie gehört wie jede andere Kunsttherapie zur Medizin als ‘Medical humanities’, als Verbindung der Natur- und Geisteswissenschaften – zum Wohl des leidenden, kranken und sterbenden Menschen.

Literatur beim Verfasser

Prof. Dr. phil. med. habil. Dietrich v. Engelhardt

Geboren 1941, nach der Promotion 1969 in Philosophie, Geschichte und Slavistik in Heidelberg Mitarbeiter eines kriminologischen Forschungsprojektes und kriminaltherapeutische Tätigkeit am Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg, parallel 1971 Assistent am Heidelberger Institut für Geschichte der Medizin, Habilitation 1976 in der Fakultät für Naturwissenschaftliche Medizin, 1983–2007 Direktor des Instituts für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte der Universität zu Lübeck, 1995 Aufnahme in die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, 1998–2002 Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin, 1998–2018 Dozent für Ethik der Psychotherapie und Kunsttherapie der Medical School Hamburg, 2008–2011 Kommissarischer Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der TU München, 2009–2018 Dozent für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Asklepios Medical School Budapest / Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Theorie der Medizin und Psychiatrie; Geschichte der Medizinischen Ethik; Medizin in der Literatur der Neuzeit; Naturwissenschaften, Medizin und Naturphilosophie in Idealismus und Romantik; Umgang des Kranken mit der Krankheit (Coping); Bibliotherapie; Botanik des 16. Jahrhunderts; Naturwissenschaftlich-medizinische Reisen in der Neuzeit; Europäische Wissenschaftsbeziehungen im 18. und 19. Jahrhundert.