Neues Forschungsprojekt der Klinik für Neurologie befasst sich mit der Funktion spezieller Nervenzellen
Schlaganfallpatienten mit Lähmungen an den Extremitäten können ganz offensichtlich durch Beobachten von Arm- oder Beinbewegungen das Wiedererlernen von verlorenen Fertigkeiten beschleunigen. Ersten Untersuchungen deutscher und italienischer Neurologen zufolge gelang es den Betroffenen während der Rehabilitation deutlich schneller, verloren gegangene Bewegungsmuster erneut zu erlernen, wenn sie diese bei anderen beobachteten, als wenn sie sie ausschließlich trainierten.
Verantwortlich für dieses Phänomen sind allem Anschein nach spezialisierte Nervenzellen, die so genannten Spiegelneurone. Neueste Forschungen mit bildgebenden Verfahren ergaben, dass die Zellen bereits bei der optischen oder akustischen Wahrnehmung von Bewegungen, die jemand anders ausführt, aktiv werden. Durch die Beobachtung von Bewegungen werden im Nervensystem Bewegungsmuster abgespeichert. Dank dieser neurologischen Lernprozesse können allem Anschein nach durch den Schlaganfall eingebüßte Funktionen wieder aktiviert werden.
Ein Team um Priv.-Doz. Dr. Ferdinand Binkofski aus der Lübecker Universitätsklinik für Neurologie (Direktor Prof. Dr. Detlef Kömpf) will nun zusammen mit Dr. Giovanni Buccino aus dem italienischen Parma bei zunächst 50 Schlaganfallpatienten eine videogestützte Methode erproben. Dabei werden den Patienten verschiedene Bewegungsabläufe regelmäßig vorgeführt. Diese Untersuchungen haben zunächst experimentellen Charakter. Bestätigen sich die ersten, viel versprechenden Ergebnisse, soll das Verfahren in größeren Patientengruppen erprobt werden.
Die Untersuchungen sind Teil eines dreijährigen Forschungsprojektes, das den Wissenschaftlern aus Lübeck und Parma jetzt von der renommierten Volkswagen-Stiftung bewilligt wurde. Die Stiftung fördert das Projekt mit 504 800 Euro. Der Entscheid für Lübeck steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem neuen Forschungsverbund "NeuroImage Nord", in dem sich Hirnforscher aus den Universitäten Lübeck, Hamburg und Kiel zusammen geschlossen haben. Dieser Verbund wird sowohl vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) als auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit mehreren Millionen Euro gefördert. Mit der Einrichtung von NeuroImage Nord ist auch Dr. Binkofski 2002 nach Lübeck gekommen: Der 40jährige Neurowissenschaftler hat die Universität Düsseldorf und das Forschungszentrum Jülich für eine Stiftungsprofessur in Lübeck verlassen. "Die wissenschaftlichen Voraussetzungen und das Arbeitsumfeld hier sind optimal; der ständige Austausch mit den Kollegen in Hamburg und Kiel ermöglicht Forschungsarbeit auf höchstem Niveau", begeistert sich Binkofski.
Spiegelneurone wurden vor einigen Jahren von den Professoren Vittorio Gallese und Giacomo Rizzolatti aus Parma mehr oder minder zufällig entdeckt. Bei Hirnuntersuchungen mit Schweinsaffen (Makakken) stellten sie fest, dass einige Nervenzellen im Stirnhirn nicht nur dann in Erregung gerieten, wenn sie eine bestimmte eigene Tätigkeit ausführten. Die gleichen Nervenzellen feuerten ihre Signale auch, wenn die Affen den Versuchsleiter bei der Ausführung von den gleichen Tätigkeiten beobachteten. So feuerten diese Zellen sowohl wenn der Affe nach einer Erdnuss griff, als auch wenn der Versuchsleiter eine Greifbewegung nach der Nuss ausführte.
Nach weiteren Experimenten stand fest: Die Tiere konnten sogar die Absichten des Versuchsleiters erahnen; sie wussten, welche Bewegungen er mit welchem Gegenstand ausführen würde. Selbst Geräusche reichten aus, um typische Bewegungen zuzuordnen: Ganz gleich, ob die Affen Nüsse selbst knackten oder nur das spezifische Knirschen einer brechenden Nuss hörten - die Aktivitätsstärke der Neurone war in allen Fällen ähnlich hoch.
Auch beim Menschen wird aufgrund der neusten Ergebnisse aus der funktionellen Bildgebung die Existenz von Spiegelneuronen immer wahrscheinlicher. Die ersten Hinweise auf die Existenz solcher Zellen beim Menschen fanden sich im so genannten Broca-Zentrum (Sprechzentrum im Hirn, das auch für die Gestik verantwortlich zeichnet); inzwischen wird diese besondere Art von Nervenzellen an verschiedenen Stellen vermutet. "Wir gehen mittlerweile von einem komplexen Spiegelneuronensystem aus, das sich im menschlichen Gehirn befindet", erklärt Dr. Binkofski.
Zwar sind Bedeutung und Funktion der Spiegelneurone noch nicht eindeutig geklärt, doch wissen die Forscher, dass diese Zellen wesentlich komplexer arbeiten als jene, die ausschließlich fürs Sehen oder Hören zuständig sind. Spiegelneurone steuern Wahrnehmung und Ausführung von Bewegungen; sie verknüpfen ganz offensichtlich Beobachtungen oder Geräusche mit der eigentlichen Durchführung von Aktionen. Sie spielen eine große Rolle beim Verstehen - und damit auch beim Erlernen - von Bewegungsabläufen. Einige Forscher gehen so weit, dass sie das Entstehen von Sprache und menschlicher Kultur auf Spiegelneurone zurück führen.
Spiegelneurone werden früh aktiv: Kleinkinder imitieren oft Mimik und Gestik ihres Gegenübers. Blinzeln, Grimassen schneiden, Zunge herausstrecken - das Gesicht von Vater oder Mutter ist wie ein Spiegel für die Verhaltensweise des Kindes. Dieses System, das die Forscher Resonanzverhalten nennen und das auf der Aktivierung von Nervenzellen beruht, ist bei jedem Menschen verankert: Kratzt der Chef sich während einer Besprechung am Kopf oder verschränkt die Arme, führen einige Angestellte die gleiche Bewegung wenig später ebenfalls aus. "Dies geschieht natürlich unbewusst und wird von jedem unterdrückt, sobald er es bemerkt. Aber grundsätzlich kennen wir alle dieses Resonanzverhalten - warum sonst wirken etwa Gähnen oder Lachen so ansteckend?", sagt Dr. Binkofski.
Auch beim Erlernen von Fertigkeiten sind die Spiegelneurone wahrscheinlich von großer Bedeutung: So steigen manche Kinder aufs Rad und fahren los, ohne es jemals geübt zu haben. Sie haben ihren Altersgenossen ganz einfach nur zugesehen und dabei mental gelernt, wie man Rad fährt. Diese Funktion bleibt auch im Erwachsenenalter erhalten: Golfspieler etwa stellen sich ihren nächsten Schlag intensiv vor. Auch das hilft, motorische Fähigkeiten zu erlangen bzw. zu verbessern.
Untersucht wird die neuronale Aktivität vor allem mit modernen bildgebenden Verfahren. Von herausragender Bedeutung ist hier die funktionelle Kernspintomographie (fMRT). Bewegungen, Gedanken und Vorstellung steigern die Hirnaktivität und damit auch den Stoffwechsel. Mit der fMRT kann dies ohne Röntgenstrahlen dreidimensional exakt dargestellt werden. Ein besonders leistungsstarkes so genanntes 3-Tesla-Gerät wurde für den Forschungsverbund NeuroImage Nord für 2,5 Millionen Euro angeschafft und im Hamburger Uniklinikum Eppendorf (UKE) aufgebaut. In Kombination mit elektrischen Ableitungsverfahren wie dem EEG oder Stimulationsmethoden wie der transkraniellen Magnetstimulation lassen sich Ort und Zeit der Aktivität von Spiegelneuronen genau bestimmen.
So ist es den Lübecker Wissenschaftlern inzwischen gelungen nachzuweisen, dass unterschiedliche Hirnareale aktiviert werden, wenn ein Gegenüber entweder Bein, Arm oder Mund bewegt. "Auch haben wir festgestellt, dass die neuronale Aktivität in bestimmten Hirnarealen des Probanden stärker ausgeprägt ist, wenn der Beobachtete nach einem konkreten Gegenstand, etwa einem Stift, greift, als wenn er ins Leere fasst", erläutert der Neurowissenschaftler. Dies, so Binkofski, ein deutliches Indiz, dass Spiegelneurone nicht nur Visuelles erfassen, sondern gleichzeitig auch in den Analyseprozess im Hirn eingebunden sind.
Welche Konsequenzen die neue Forschungsergebnisse für Opfer von Schlaganfällen haben und ob sich daraus neue Therapieoptionen ergeben, muss jetzt intensiver geprüft werden. In wenigen Wochen beginnt eine Untersuchung mit 50 Patienten. Ihnen werden regelmäßig spezielle Videos gezeigt, auf denen Bewegungsübungen wie "Arm heben" oder "Bein strecken" zu sehen sind. Binkofski: "Wir hoffen, dass durch wiederholtes Sehen der Bewegungen gespeicherte Muster abgerufen und schon verloren geglaubte Bewegungsabläufe wieder aktiviert werden." Bei ersten Patienten, denen die Videosequenzen vorgespielt wurden, hat sich diese Hoffnung bewahrheitet: Allein durchs Beobachten - und den daraus resultierenden neuronalen Aktivitäten - konnte der Erfolg der Rehabilitation in kürzerer Zeit erreicht werden.
Zu große Erwartungen dürfe man in das experimentelle Verfahren jedoch noch nicht setzen, schränkte Dr. Binkofski ein; erst müssten weitere Studien entsprechende Ergebnisse bringen und bestätigen. Auch sei die Methode für Patienten mit stark geschädigten Nervenbahnen kaum geeignet, frühere Bewegungsmuster wieder zu erlernen. Für Patienten mit weniger stark ausgeprägten Schlaganfällen könnte sich aus dem Verfahren jedoch eine weitere Therapieoption entwickeln, hofft der Neurologe.
Die Volkswagenstiftung fördert insgesamt drei neurowissenschaftliche Projekte mit zusammen 1,14 Millionen Euro. Für Lübeck besonders erfreulich ist die Tatsache, dass auch das Institut für Neuroendokrinologie (Direktor: Prof. Dr. Jan Born) mit Forschungsgeldern der Stiftung bedacht wurde: Für ein Projekt zum Thema "Gedächtnisbildung im Schlaf" bekam ein Forscherteam unter Leitung von Prof. Born und Prof. Susan Sara, Université Pierre & Marie Curie Paris, 453 900 Euro bewilligt. Die Wissenschaftler gehen der Frage nach, wie Gedächtnisinhalte im Schlaf nachhaltig gespeichert werden und welche besondere Bedeutung hierbei dem Neurotransmitter Noradrenalin zukommt.
(Siehe hierzu die Pressemitteilung "Wirkt Schlaf vorbeugend gegen Übergewicht und Bluthochdruck? Schlaf und Gedächtnis: Neuer Forschungsschwerpunkt an der Universität Lübeck").
Uwe Groenewold / Pressedienst Universität zu Lübeck
Die Fotos sind zur Veröffentlichung freigegeben. Um ein Belegexemplar wird freundlichst gebeten.
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