In Trance empfindet der Patient weniger Schmerzen: Selbst Tumor- und Gesichtsoperationen werden ohne Vollnarkose durchgeführt
Die Universität zu Lübeck beschreitet neue Wege: Um Patienten eine unangenehme kiefer- oder gesichtschirurgische Behandlung zu erleichtern, werden diese seit kurzem hypnotisiert. In Trance verlieren sie die Angst vor der Behandlung und empfinden deutlich weniger Schmerzen. Während sich medizinische Hypnose in Zahnheilkunde und Psychotherapie bereits etabliert hat, betreten die Lübecker Spezialisten in der Chirurgie damit Neuland. Die Klinik für Kiefer- und Gesichtschirurgie (Direktor: Prof. Dr. Dr. Helmut von Domarus) ist die bundesweit erste ihrer Art mit einer eigenen Hypnosesprechstunde.
"Wenn es der Patient wünscht, verzichten wir nicht nur bei ausgedehnten Kieferbehandlungen auf eine Vollnarkose. Auch Tumoroperationen, Abszesseröffnungen und wiederherstellende Eingriffe im Gesicht können in örtlicher Betäubung unter Hypnose durchgeführt werden", erläutert Dr. Dr. Dirk Hermes das spektakulär anmutende Verfahren.
120 Behandlungen bei 101 Patienten zwischen 15 und 87 Jahren haben die Lübecker im vergangenen halben Jahr unter Hypnose vorgenommen. Dabei erlebten nur vier Patienten (3,4 %) keinen Hypnoseeffekt, in zwei weiteren Fällen (1,6 %) kam es nicht zu einer Verbesserung der Behandlungsbedingungen. Bei der übergroßen Mehrheit - exakt bei 95 % aller Hypnosesitzungen - stellten die Chirurgen jedoch Trance-Phänomene fest, die zu einer deutlich stressärmeren Behandlungssituation für Patient und Arzt führten. Die Patienten waren angstfrei und entspannt, hatten seltener unangenehmen Speichelfluss oder Würgereiz und konnten belastende Behandlungspositionen besser tolerieren.
Das Konzept scheint den Chirurgen recht zu geben: Alle später befragten Patienten mit positiver Trance-Erfahrung würden einer erneuten Behandlung unter Hypnose sofort zustimmen; 18 wurden bereits mehrfach unter Hypnose operiert. Die aktuellsten Daten aus Lübeck zur Wirksamkeit von Hypnose stellt Dr. Hermes beim 16. Europäischen Kongress für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie vom 3.-7. September in Münster vor.
60 % aller Frauen und Männer gehen nur ungern zum Zahnarzt. Und weitere 25 % zögern einen Termin so weit es geht hinaus bzw. vereinbaren erst gar keinen mehr. Selbst eine - heute in aller Regel - schmerzfreie Behandlung bleibt oft als schlechte Erfahrung im Gedächtnis. Und allein die Angst vor möglichen Schmerzen macht nachfolgende Therapien noch unerträglicher. "Die medizinische Hypnose, die wir bei unseren Behandlungen zusätzlich zur örtlichen Betäubung einsetzen, eignet sich ideal, diesen Teufelskreis zu durchbrechen", erläutert Hermes.
Mittels Musik und beruhigender Worte gelangen die Patienten in einen entspannten Zustand, während dessen sie sich intensiv zurück liegende, schöne Erlebnisse vorstellen. Die Behandlung, vor der sie sich so gefürchtet haben, rückt in den Hintergrund; Herzschlag, Blutdruck und Atmung normalisieren sich. Die Situation ist vergleichbar mit einem Film, in den der Zuschauer versinkt und die Rückenschmerzen, die der klapprige Kinostuhl verursacht, gar nicht spürt.
Die Requisiten der medizinischen Behandlung können in die Hypnose eingebaut werden und ihre Wirkung noch verstärken: Das OP-Licht suggeriert Sonnenschein, der Speichelsauger Meeresrauschen, und die Abdecktücher täuschen sommerliche Wärme vor. Hermes: "Auf diese Weise kommt es zu einer völligen Umdeutung der Situation. Einem Patienten, dem wir während einer Behandlung 17 Zähne gezogen haben, war in der Hypnose so mit seinem letzten Türkeiurlaub beschäftigt, dass er nicht bemerkte, wie wir mit Zangen und Fräsen in seinem Mund gearbeitet haben."
Viele Patienten können sich nicht oder nur schemenhaft an die Behandlung erinnern. Dabei sind die Betroffenen während der Trance nicht narkotisiert oder gar willenlos. Ganz im Gegenteil: "Gegen seinen Willen kann niemand hypnotisiert werden, alles geschieht in gegenseitigem Einvernehmen. Der Patient ist während der Hypnose wach, ansprechbar und kann aktiv in die Behandlung einbezogen werden. Außerdem ist er jederzeit in der Lage, seine Augen aufzuschlagen und die Trance abzubrechen." Wichtig sei, so Hermes, in ausführlichen Vorgesprächen den Patienten auf Hypnose und Behandlung vorzubereiten.
Der erste Patient, der in der Klinik für Kiefer- und Gesichtschirurgie unter Hypnose behandelt wurde, war Hermes selbst. Seine Kollegen entfernten ihm in einem 80minütigen Eingriff zwei im Kiefer verlagerte Weisheitszähne und führten eine Wurzelspitzenresektion an einem oberen Backenzahn durch. "Es war sehr angenehm, selbst kurzzeitig auftretende Schmerzen haben mich nicht gestört. In Trance war ich Segeln und fühlte mich entspannt und distanziert von dem, was gerade mit mir geschah."
Anfangs wurden an der Lübecker Uniklinik bevorzugt chirurgische Zahnsanierungen unter Hypnose durchgeführt. Doch das Spektrum hat sich schnell erweitert: So werden nach einem Kieferbruch im Gebiss verankerte Drahtschienen in Trance wesentlich schonender wieder entfernt. Auch der Verschluss von Luftröhrenschnitten erweist sich unter Hypnose als weniger belastend für den Patienten. Und selbst ausgedehnte Tumoroperationen, in dessen Folge Gesichtshaut "verlegt" werden musste, wurden bereits mit nur niedrig dosierter örtlicher Betäubung unter Hypnose ausgeführt. Die bisher längste Lübecker Hypnose-OP dauerte zweieinviertel Stunden.
Um den, so Hermes, "klinisch eindeutig sichtbaren" Nutzen der Hypnose in der Kiefer- und Gesichtschirurgie auch wissenschaftlich zu belegen, werden in Lübeck jetzt zwei Studien aufgelegt: In der ersten Untersuchung werden Zahnbehandlungen unter örtlicher Betäubung verglichen, die teils mit und teils ohne Hypnose durchgeführt wurden. Die zweite Studie geht der Frage nach, ob Hypnose sich günstig auf den Heilungsverlauf auswirkt, die Kieferschwellung etwa geringer ist und der Schmerzmittelgebrauch sinkt.
(Für die lokalen Medien: Die Hypnose-Sprechstunde ist mittwochs, telefonische Voranmeldung unter 0451-500 2269)
Info Hypnose
Die Zeiten, in denen Hypnose als "gefährlicher Hokuspokus" oder "Jahrmarkt-Belustigung" angesehen wurde, sind vorbei. In der Deutschen Gesellschaft für Zahnärztliche Hypnose (DGZH) sind mehr als 1000 Ärzte organisiert; ein großer Teil der Psychotherapeuten wendet die Methode erfolgreich z.B. bei Depressionen, Angst- oder Zwangserkrankungen an.
Dennoch haftet der Hypnose ein Makel an: Menschen werden beeinflusst, so der Vorwurf, ihnen werde ein fremder Wille aufgedrückt, so dass z.B. bei der Showhypnose vor großem Publikum aus dem braven Geschäftsmann ein abenteuerlustiger Draufgänger wird, der barfuss über glühende Kohlen läuft und dem staunenden Volk die Geheimnummer seiner EC-Karte verrät.
"Diese zweifelhaften Manipulationen, bei denen Menschen mit psychologischen Tricks in einen kurzzeitigen Zustand größtmöglicher Verwirrung gestürzt werden, haben nichts mit medizinischer Hypnose zu tun. Sie schaden aber nach wie vor dem Image", sagt Dr. Hermes.
Die Hypnose hat ihr Gesicht in den vergangenen 30 Jahren stark verändert. Auf den amerikanischen Psychotherapeuten Milton H. Erickson geht ein Konzept zurück, das den Patienten wesentlich stärker in die Behandlung einbezieht. Die suggestive Hypnose, bei der der Therapeut die Denkweise des Patienten beeinflusst, hat ausgedient. Das neue Konzept orientiert sich an den eigenen Vorstellungen des Patienten. So wird der Patient auch nicht vom Therapeuten "in Trance geschickt", sondern er selbst "begibt sich in Trance".
Dieses "Sich-Ausklinken" aus der Realität ist erlernbar; etwa 90 % der Bevölkerung gelten als hypnosefähig. Bei der medizinischen Hypnose wird die eigene Fähigkeit zur "Alltagstrance" gezielt gefördert. Der Zustand ist nach Expertenmeinung unbedenklich: Jeder hat es selbst in der Hand, ihn wieder zu verlassen. Außerhalb von Psychotherapiepraxen ist das Verfahren für Menschen mit akuten psychiatrischen Erkrankungen jedoch nicht geeignet.
Warum Hypnotisierte weniger Schmerzen verspüren bzw. die erlebten Schmerzen aus emotionaler Distanz "erleben", ist noch ungeklärt: Forscher vermuten, dass Hypnose die Kommunikation zwischen einzelnen Hirnzentren stört, in denen eingehende Reize abgeglichen und verarbeitet werden.
(Uwe Groenewold)
für die Ukraine