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Dienstag, 07.05.2002

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Ein "Schrittmacher" für die Zunge

Krebskranke Zunge wird durch Halsmuskulatur ersetzt - Elektrische Stimulation soll Beweglichkeit verbessern

Die operative Rekonstruktion der durch Krebserkrankung oder Unfall zerstörten Zunge gehört zu den bemerkenswertesten chirurgischen Leistungen des Universitätsklinikums Lübeck. Prof. Dr. med. Stephan Remmert, kommissarischer Direktor der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, ist für die Entwicklung des Verfahrens, bei dem Halsmuskulatur in den Rachen verlegt wird, mehrfach ausgezeichnet worden. Um den Patienten den Alltag mit der neuen Zunge weiter zu erleichtern, entwickeln die HNO-Spezialisten derzeit eine Art Schrittmacher für die Zunge. Mit elektrischen Impulsen soll die eingeschränkte Beweglichkeit des neuen Organs verbessert werden. Erste Ergebnisse ihrer Forschungen stellen die Lübecker jetzt beim Deutschen HNO-Kongress vom 8. - 12. Mai in Baden-Baden vor.

Die Zunge ist ein komplexes Organ, das eine entscheidende Rolle beim Schlucken und Sprechen spielt: Fünf Hirnnerven und 26 Muskelgruppen sind notwendig, damit der Mensch koordiniert essen und trinken und sich im Gespräch verständlich ausdrücken kann. Werden Zunge, Muskeln und Nerven in Folge einer Krebserkrankung oder eines Verkehrsunfall in Mitleidenschaft gezogen, drohen erhebliche Beeinträchtigungen. Bei fortgeschrittenen Tumoren muss die Zunge nicht selten vollständig entfernt werden (totale Glossektomie). Ohne funktionstüchtigen Ersatz kann sich der Patient dann nicht mehr selbständig ernähren.

In Lübeck werden als Zungentransplantat zwei Muskelstränge am Hals verwandt, die Kehlkopf und Schilddrüse bedecken. Bei dem komplizierten, bis zu 14 Stunden dauernden Eingriff wird zunächst der Unterkiefer aufgetrennt. Die beiden freigelegten Muskellappen werden nun von unten in den Mund gezogen und miteinander vernäht. Die noch fehlende Schleimhaut wird durch Haut vom Unterarm ersetzt.

Der Vorteil dieser Methode gegenüber herkömmlichen OP-Verfahren, bei denen Muskelpartien aus dem Brust- oder Rückenbereich eingepflanzt werden, liegt darin, dass keine Muskeln anderer Körperteile in den Mund implantiert werden müssen, sondern die im Halsbereich vorhandenen Stränge lediglich "verlegt" werden. Die Nerven und Blutgefäße brauchen nicht durchtrennt zu werden und bleiben erhalten. "Somit kann die neue Zunge schneller und erfolgreicher ihre Arbeit aufnehmen als herkömmliche Transplantate", erläutert Prof. Remmert.

115 Patienten aus ganz Deutschland, darunter mehrere Opfer von Verkehrsunfällen, die sich die Zunge teilweise abgebissen hatten, wurden mit der neuen Methode in den vergangenen Jahren behandelt. In 15 Prozent der Fälle war eine vollständige Rekonstruktion der Zunge notwendig, bei den anderen Patienten blieb die Zungenwurzel erhalten oder es musste nur ein Teil des Organs nachgebildet werden. Bei zwei Drittel der Patienten, denen die Zunge vollständig ersetzt wurde, konnte nach der Operation der vorsorglich gesetzte Luftröhrenschnitt wieder verschlossen werden. Der Kehlkopf, der bei ähnlichen Eingriffen in der Regel mit entfernt wird, blieb in allen Fällen erhalten.

Zwar beginnen 95 Prozent aller Patienten nach durchschnittlich 30 Tagen, wieder selbständig und ohne Nährsonde ihre Mahlzeiten zu sich zu nehmen, doch ist die für das Kauen und Schlucken erforderliche Beweglichkeit der neuen Zunge eingeschränkt. Remmert: "Die rekonstruierte Zunge führt in erster Linie passive Bewegungen aus, die durch Kontraktionen der umgebenden Mundboden-, Schlund- und Kaumuskulatur entstehen." Dies reicht meist aus, um Speisen mit der Zunge gegen den Gaumen zu pressen. Von dort gelangen sie in den Rachenraum, wo der Schluckreflex ausgelöst wird. Verstärkt man jedoch diese von Zunge und Gaumen initiierte Stempelwirkung, erleichtert das die Verarbeitung der Nahrung erheblich.

Hier setzt nun der Schrittmacher an: Er soll Reize des Zungennervs (Hypoglossus) - der bei der Entfernung des kranken Organs durchtrennt wurde, aber Untersuchungen der Lübecker Wissenschaftler zufolge dennoch Signale aussendet - auf die verlegte Halsmuskulatur übertragen und verstärken. Laut Oberarzt Dr. Eckard Gehrking werden damit mehrere Ziele verfolgt:

  • Bei vielen Zungentransplantaten erschlaffen die Muskeln mit der Zeit, das Gewebe zieht sich zusammen. Dadurch schrumpft die Zunge; Nahrung kann nicht mehr kontrolliert im Mund gehalten werden, sondern rutscht direkt in den Rachen. Wird die Zungenmuskulatur nun durch verstärkte Nervenreize "trainiert", könnte der Gewebsverlust aufgehalten werden.

  • Die Funktionalität der neuen Zunge könnte durch die elektrische Stimulation verbessert werden. Zum einen ist an eine effektivere Stempelwirkung, zum anderen an eine Rechts-Links-Bewegung der Zunge gedacht, mit der Nahrung zu den Zähnen geschoben werden kann.

Im Tierversuch mit gewöhnlichen Hausschweinen wird derzeit untersucht, welche Signale von dem durchtrennten Zungennerv noch ausgehen. Der nur zwei Millimeter starke Hypoglossus wird dazu mit speziellen Elektroden ummantelt; die Reize können von außen gemessen, also abgeleitet, werden. Bei zwei der inzwischen zehn Versuchstiere, so Gehrking, ist dies bereits seit mehr als 130 Tagen erfolgreich möglich. Später sollen die Reize per Kabel auf die rekonstruierte Zunge übertragen werden. Erste Resultate der Forschungsreihe stellt Gehrking beim Deutschen HNO-Kongress in Baden-Baden (8.-11. Mai in Baden-Baden) vor.

Eins zu Eins auf den Menschen übertragen lassen sich die Ergebnisse nicht, obwohl die Anatomie im Mund-Rachen-Bereich ähnlich ist. Bis zur Verwirklichung des von der Deutschen Krebshilfe geförderten Projekts werden daher noch mehrere Jahre vergehen. Dabei ist der Bau des Schrittmachers das kleinste Problem, wie Gehrking versichert: Die Kardiologie biete bereits ausgefeilte Technik. Der Zungenschrittmacher könne dann, ähnlich wie sein Pendant fürs Herz, unter dem Schlüsselbein eingesetzt und per Kabel mit dem Muskel verbunden werden.

Langfristig eröffnen sich weitere Indikationen im HNO-Bereich: Per Schrittmacher könnten dann auch Gesichtsnervenlähmungen (etwa beim unvollständigen Augen- oder Mundschluss) ausgeglichen werden. "Das ist jedoch noch Zukunftsmusik", so Gehrking, "zur Verwirklichung solcher Ziele sind größere Forschergruppen und eine intensivere Förderung notwendig. Und darauf kann man in Zeiten knapper Kassen wohl nur hoffen."

Uwe Groenewold


Info: Zungenkrebs

Die Ursachen für einen Zungenkrebs sind vielfältig: Alkohol, Nikotin, schlechte Zahn- und Mundhygiene, Vitaminmangel und Umwelteinflüsse gelten als Hauptauslöser für eine bösartige Geschwulst im Mund- und Rachenbereich, von der jährlich rund 10000 Menschen in Deutschland betroffen sind. Männer erkranken doppelt so häufig wie Frauen; betroffen sind vor allem über 50jährige. Remmert: "Mehr als 90 Prozent der Patienten sind starke Raucher. Besonders negativ wirkt sich die Kombination Nikotin und Alkohol auf die Zunge aus."

Wie bei anderen Krebsarten gilt auch hier: Je früher die Diagnose, desto erfolgversprechender die Behandlung. Ein kleiner Tumor im vorderen, beweglichen Teil der Zunge kann mit dem Laser so entfernt werden, dass der Patient beschwerdefrei und geheilt die Klinik verlassen kann. Doch oft wird ein Tumor in der Mundhöhle erst spät erkannt, weil die Betroffenen den Warnzeichen - Blutungen im Mund, Schluckbeschwerden, undeutliche Aussprache, eine "schwere", unbewegliche Zunge - zu lange keine Aufmerksamkeit schenken.

Der Muskellappen (braun), der bisher die Schilddrüse bedeckt hat, wird nach oben in den Rachen gezogen. (Zeichnung: Remmert, MUL)

Der Muskellappen (braun), der bisher die Schilddrüse bedeckt hat, wird nach oben in den Rachen gezogen. (Zeichnung: Remmert, MUL)

Prof. Dr. med. Stephan Remmert, kommissarischer Direktor der Lübecker Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde

Prof. Dr. med. Stephan Remmert, kommissarischer Direktor der Lübecker Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde