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SS 2005

Gedächtnis (II.)

Das Studium Generale ergründet unser Gedächtnis

Die Vorträge des Lübecker Studium Generale im Sommersemester 2005 setzten das Programm des vorhergehenden Wintersemesters fort.28.4.2005: "Wenn das Gedächtnis zerfällt - M. Alzheimer und M. Pick: Der Verlust von Vergangenheit oder Zukunft" (Prof. Dr. Hans Förstl, München)

Lebewesen mit einfacherem Bauplan besitzen ein weniger komplexes Nervensystem als der Mensch und seine engen Verwandten. Die Entwicklung des menschlichen Gehirns eröffnet nicht allein größere Möglichkeiten zur Speicherung von Informationen, sondern vor allem kreativere Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich von Erinnerungen und Vorstellungen. Diese energieaufwändige Innenwelt erlaubt eine erfolgreiche Anpassung an die wechselnden Anforderungen der Außenwelt und dient dem Vermeiden vorstellbarer Gefahren. Die Alzheimer Demenz beeinträchtigt vorwiegend jene postzentralen Hirnareale, die mit der Bearbeitung der Vergangenheit befasst sind. Die Frontallappendegenerationen (M. Pick etc.) schränken jene Regelkreise ein, die sich mit der Betrachtung von Handlungskonsequenzen und damit der Zukunft beschäftigen. Beide Formen der Hirndegeneration lenken den Blick der Betroffenen auf die Gegenwart, deren Interpretation jedoch entweder durch den Verlust der Erfahrung (Alzheimer) oder des Interesses (Pick) erschwert wird. Die Größe des Demenzproblems, diagnostische und therapeutische Möglichkeiten werden angesprochen.

Hans Förstl, seit 1997 Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der TU München, vorher Chair of Psychiatry, University of Western Australia, Perth, davor C3-Stiftungsprofessur am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim, früher Assistent am Institute of Psychiatry, London, war ursprünglich Neurologe. Vorrangiges berufliches Interesse am Schnittbereich von Neurologie und Psychiatrie, Hirn und Seele.

19.5.2005: "Emotionen, Lernen, Gedächtnis" (Dr. Christian Büchel, Hamburg)

Spätestens nach der Pisa-Studie ist das "Lernen" ein wenig weiter in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt. Was ist Lernen aber überhaupt und wie funktioniert es? Lernen ist der Erwerb von Kenntnissen, der es ermöglicht, das zukünftige Verhalten zu verändern, im Normalfall zu verbessern. In dem Vortrag wird zuerst darauf eingegangen, wie man sich den "Erwerb von Kenntnissen" und natürlich das Ablegen solcher Inhalte im Gedächtnis vorzustellen hat. Ein wichtiger Aspekt hierbei ist, dass Emotionen dabei das Lernen grundsätzlich beeinflussen können. Im weiteren wird darauf eingegangen, wie erworbene Kenntnisse "das zukünftige Verhalten" verändern können, insbesondere werden verblüffende Effekte vorgestellt, bei denen man zeigen kann, dass eine Person etwas gelernt hat, dieses Wissen anwendet, sich selbst dessen aber nicht bewusst ist.

Christian Büchel (39) studierte Humanmedizin an der Universität Heidelberg. Nach Auslandsaufenthalten in Philadelphia und London kam er 1999 nach Hamburg, wo er zur Zeit als Professor für systemische Neurowissenschaften tätig ist. Neben dem Lernen konzentriert sich seine Arbeitsgruppe auf Motivation und Emotion sowie auf Störungen der Gehirnfunktion bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen.

16.6.2005: "Der Schleier der Erinnerung - Grundzüge einer historischen Memorik" (Prof. Dr. Johannes Fried, Frankfurt)

Das Gedächtnis trügt. Erinnern und Vergessen sind grundlegende Prozesse menschlichen Lebens. Sie sind damit zugleich entscheidende, bisher aber kaum beachtete Faktoren für das Zustandekommen der Mehrzahl historischer Quellen. Johannes Fried konfrontiert deshalb die Ergebnisse der modernen Gedächtnis- und Hirnforschung mit ausgewählten Beispielen aus der Geschichte, um den Schleier der Erinnerung zu lüften. Er erläutert die Ergebnisse moderner Kognitionswissenschaften und konfrontiert sie mit ausgewählten Beispielen der modernen und mittelalterlichen Geschichte. Sein Ergebnis: Vergangenheit wird in der Gegenwart stets neu geschaffen; unbewusst konstruiert aus unterschiedlichen Elementen erinnerten Geschehens. Wesentlich geprägt durch die Erfordernisse der jeweiligen Gegenwart entstehen scheinbar stimmige Vergangenheitsbilder, die doch in ihren elementaren Aussagen erheblich vom tatsächlich Geschehenen abweichen können. Jede Erinnerung und damit jede Quelle ist deshalb auf ihre Gegenwart hin zu befragen, um sie beurteilen zu können. Am Ende stehen neue Regeln für den Umgang mit Geschichte.

Johannes Fried ist Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt. Er war von 1996 bis 2000 Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands. 1995 erhielt er für sein Werk Der Weg ins Mittelalter den Preis des Historischen Kollegs.

14.7.2005: "Das kulturelle Gedächtnis" (Prof. Dr. Jan Assmann, Heidelberg)

Dank seines Gedächtnisses ist der Mensch das Tier, das sich in der Zeit zu orientieren und in weiten, in Vergangenheit und Zukunft ausgreifenden Horizonten zu leben vermag. Diese Orientierung ist aber nicht nur eine Frage seiner neurobiologischen Ausstattung, sondern auch seiner vielfältigen sozialen und kulturellen Zugehörigkeiten, der gesellschaftlichen Dynamik von Selektion und Exklusion, Speicherung, Zirkulation und Adressierbarkeit kollektiv geteilten Wissens. Kulturelle Orientierungshorizonte scheinen immer bedroht, durch ein Zuviel des Vergessens (Manfred Osten), aber vielleicht auch durch ein Zuviel des Erinnerns, wie Nietzsche meinte. Auf der gegenwärtigen Medienschwelle zum digitalen Zeitalter stellt sich die Frage nach der Zukunft des kulturellen Gedächtnisses ebenso wie die nach seinen anthropologischen Wurzeln, den "Urszenen" der kulturellen Erinnerung, mit neuer Dringlichkeit.

Jan Assmann, geboren 1938, em. Professor für Ägyptologie (Heidelberg 1976 bis 2003), Honorarprofessor für allgemeine Kulturwissenschaft an der Universität Konstanz. Zahlreiche Publikationen zur altägyptischen Geschichte, Religion, Literatur und Archäologie sowie zur Ägyptenrezeption (Moses der Ägypter 1998, Die Zauberflöte 2005), allgemeinen Religionsgeschichte ("Kosmotheismus"/Monotheismus) und Kulturtheorie (Das kulturelle Gedächtnis). Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; Ehrendoktor der Universitäten Münster, Yale und Jerusalem (Hebrew University). Träger des "deutschen Historikerpreises" 1998.