Blockpraktikum Soziale und evidenzbasierte Medizin: Erfahrungen aus der erzwungenen Umstellung auf die Online-Lehre - Fake Science und Verschwörungsideologien kompetent begegnen
Dr. med. Maria Raili Noftz, MPH und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie der Universität zu Lübeck, ist mit dem Lehrpreis 2020 der Universität ausgezeichnet worden. Sie erhält den mit 3.000 Euro dotierten Preis für das von ihr im 3. und 4. klinischen Semester des Medizinstudiums und auch für eine Gruppe von Pflege-Studierenden abgehaltene Blockpraktikum „Soziale und evidenzbasierte Medizin“. Im Sommersemester 2020 wurde das Praktikum mit Unterstützung von Louisa Labohm und Team online durchgeführt.
Wir haben mit Frau Dr. Noftz über die folgenden Fragen gesprochen:
Frau Dr. Noftz, in Ihrem Blockpraktikum geht es wesentlich um das Verständnis der Bedeutung von Wissenschaftlichkeit und das Erlernen von wissenschaftlichem Handwerkszeug. Wie sind die Studierenden gegenwärtig generell dafür gerüstet, und welches sind Ihre Erfahrungen, diese Kernkompetenzen zu vermitteln?
Nach unserer Erfahrung besitzen die Studierenden einen durchschnittlichen Grad an wissenschaftlichem Handwerkzeug, wenn sie bei uns in das Blockpraktikum „Soziale und evidenzbasierte Medizin“ starten. Das Thema „Wissenschaftliche Kompetenzen“ wird als generell wichtig von den Studierenden eingestuft, aber häufig eher im Zusammenhang mit einer medizinischen Promotion und weniger für den alltäglichen Gebrauch im klinischen Alltag.
In unseren Praktika vermitteln wir neben den Inhalten der Sozialmedizin das Konzept der Evidenzbasierten Medizin (EbM). EbM bedeutet für die Ärztin und den Arzt, im klinischen Alltag patientenorientierte Entscheidungen auf Grundlage von kritisch bewerteten wissenschaftlichen Ergebnissen zu treffen, zusammen mit der eigenen Expertise und den Wünschen der Patient*innen.
Zusätzlich gehört dazu, über Vor- und Nachteile medizinischer Prozeduren zu informieren und Patient*innen in der sogenannten partizipativen Entscheidungsfindung zu unterstützen. Das setzt voraus, dass Grundkenntnisse in der Literatursuche und kritischen Bewertung von wissenschaftlichen Studien im Medizinstudium erlernt und weiter trainiert werden sollten.
Genau das versuchen wir den Studierenden in dem EbM-Part unseres Blockpraktikums zu vermitteln. Dabei sehen wir das Erlernen von grundlegenden Kompetenzen zu wissenschaftlichen Arbeiten und die Bewertung von wissenschaftlicher Literatur ähnlich gewichtet wie das korrekte Erlernen von Blutdruckmessungen oder der Auskultation des Herzens. Die wenigsten Studierenden gehen zwar wirklich in die Wissenschaft. Die meisten gehen in den klassischen medizinischen bzw. pflegerischen Beruf und sind damit aber lebenslange Wissenschaftsanwender*in.
Zugegeben, die Themen der EbM sind teilweise etwas trocken und theoretisch: zum Beispiel Literatursuche, Studiendesign, klinische Epidemiologie und grundlegende statistische Inhalte. Daher versuchen wir, die Inhalte anhand von fiktiven klinischen Patient*innen-Beispielen mit Leben zu füllen und zu erläutern. Die Studierenden werden auch selbst in den Seminaren praktisch tätig, indem sie selbstständig wissenschaftliche Literatur suchen, bewerten und kritisch diskutieren. Zusätzlich bringen wir alle als Dozierende auch eine genuine Begeisterung für das Thema mit, die sich erfreulicherweise auch teilweise auf die Studierenden übertragen lässt.
Begeisterung von Seiten der Dozierenden für das Thema und praktisches Selbstüben ist wichtig, denn vielen Studierenden liegen diese theoretischen Themen erstmal „nicht so“. Aber wenn sie plötzlich Tabellen in Studien richtig interpretieren können, wo sie vor einer Woche noch mit großem Fragezeichen davorsaßen, dann hat das einen ähnlich positiven Effekt wie erfolgreich das erste Mal bei einem*r Patient*in einen zentralen Zugang zu legen. Durch diese positive Verstärkung mit kleinen Erfolgserlebnissen reduzieren sich dann auch gewisse Hürden bei den Studierenden. Dennoch braucht das Anwenden der EbM weiterhin Training. Wir hoffen aber, dass wir gewisse Startvoraussetzungen dazu vermitteln können.
Dr. Maria Raili Noftz, 1975 in Schleswig geboren, studierte 1997 – 2004 Humanmedizin an der Universität zu Lübeck, 2011 Promotion. 2013 Fachärztin Innere Medizin. 2016 Master Public Health nach berufsbegleitendem Studium an der Universität für Angewandte Wissenschaften, Hamburg. Seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrkoordinatorin im Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie der Universität zu Lübeck. Langjährige Dozentin und Organisatorin unterschiedlicher Lehrformate zu Themen der evidenzbasierten Medizin, des wissenschaftlichen Arbeitens, der Inneren Medizin (B.Sc. Pflege) und sexueller Gesundheit. |
Wie gelingt es, die Studierenden besonders auch bei der praktischen Anwendung ihres theoretischen Wissens in der sozialen und evidenzbasierten Medizin anzuleiten?
Normalerweise absolvieren die Studierenden bei uns im Blockpraktikum neben theoretischen Seminaren zum Themengebiet der Sozialmedizin (Rehabilitation / Naturheilverfahren, deutsches Gesundheitssystem / Gesundheitsökonomie, Arbeitsmedizin / Sozialmedizin) vier Besuche bei verschiedenen Playern des Gesundheitssystems, zum Beispiel Gesundheitsamt, Selbsthilfegruppen, Kassenärztliche Vereinigung oder Krankenkassen, sowie auch in Rehakliniken. Die theoretischen Inhalte in der Praxis direkt von Expert*innen vertiefend erläutert zu bekommen, wird von den Studierenden als sehr positiv zurückgemeldet. Und wir sind sehr dankbar, dass die Kooperation mit ca. 40 Institutionen seit vielen Jahren so vertrauensvoll und wertschätzend läuft.
Seit dem Beginn der Corona-Epidemie mussten in der Online-Lehre nun leider diese gesamten Praxisbesuche entfallen. Daher kam die Überlegung, die aktuelle Corona-Pandemie als eine Art „praktisches Element“ in die theoretischen Einheiten der EbM-Seminare zu verlegen. Das passte thematisch natürlich wunderbar zu einem unserer Seminarthemen „Epidemiologie“. Zusätzlich kam aber die Vorüberlegung hinzu, dass das Thema „Wissenschaft“ und „Umgang / Verständnis von Wissenschaft“ mit dem Start der Pandemie stärker in den Fokus der Bevölkerung gerückt ist - und somit Medizinstudierende wie auch Pflegestudierende noch mehr als zuvor als eine Art von „Expert*innen“ wahrgenommen werden würden. Diese Vorüberlegung bestätigte sich schnell, da Studierende stärker als in Präsenzzeiten eine intrinsische Motivation artikulierten, sich in unserem Blockpraktikum vermehrt mit wissenschaftlichen Inhalten beschäftigen zu wollen.
So konzipierten wir die EbM-Seminare zu diagnostischen und therapeutischen Studien um, indem wir die theoretischen Inhalte an aktuellen Corona-Beispielen erläuterten. So wurde im Bereich der Diagnostik das Thema Antigen- bzw. Antikörper-Testung als Kernthema zur Vermittlung der EbM-Inhalte aufgegriffen. Die Dynamik der Pandemie, die jede*r im Privaten erlebte, ließ sich so in den Unterricht bringen und machte die eher trockenen Themen EbM und wissenschaftliches Arbeiten zu einer Art „Live-Erlebnis“ der Inhaltsvermittlung und Stärkung des Wissenschaftsverständnisses.
Welche besonderen Herausforderungen haben sich durch die erforderlich gewordene Umstellung auf Online-Lehre gestellt, und wie sind Sie ihnen begegnet?
Wir sind der Umstellung von Präsenz auf online Lehre mit reinem Pragmatismus begegnet. Für uns war wichtig, dass wir trotz der online Lehre unsere Inhalte weiterhin auf einem hohen Niveau vermitteln und die Studierenden auch ohne Zeitverlust unseren Kurs absolvieren und erfolgreich abschließen können.
In den Vorüberlegungen zur Umstellung auf die Online-Lehre hatten wir das Gefühl, dass die Studierenden in dieser unklaren Zeit eine klare Struktur brauchen. Daher haben wir jeder Praktikumsgruppe einen zweiwöchigen Stundenplan stets am Anfang des Semesters zukommen lassen. Dieser gab allen Studierenden einen klaren Fahrplan für Ablauf und Vorbereitung wie auch Prüfungsleistung in ihrer Gruppe.
Die Umstellung der Prüfungsleistung in den Online-Modus haben wir ebenso pragmatisch gelöst. Die Vergabe der sonst mündlichen Noten und Bewertungen von Referaten wurde in E-Tests (elektronische Tests über die Lehr- und Lernplattform Moodle nach dem Multiple-Choice-Verfahren) umgewandelt, für die den Studierenden ausreichend Zeit und Versuche während der zwei Praktikumswochen eingeräumt wurde. Die Rückmeldungen zeigten, dass das Konzept gut angekommen ist und erlernte Inhalte durch die E-Tests und auch durch das teilweise mehrfache Wiederholen zum Erlangen einer besseren Note noch einmal vertieft wurden. Zusätzlich hatten die Studierenden eine eigene Flexibilität im Erledigen der Tests und auch die für sie wichtige Sicherheit, den Schein zu bekommen.
Eine weitere Umstellung war, dass wir leider alle praktischen Anteile der Besuche bei unseren Kooperationspartner ersatzlos streichen mussten. So blieb nur, die theoretischen Inhalte in Form von kommentierten oder eingesprochenen Foliensätzen wie auch selbsterstellten Videos zu vermitteln - zum Beispiel zum Thema Naturheilverfahren von den Kolleg*innen der Allgemeinmedizin. Wir danken allen Kolleg*innen noch einmal sehr, dass diese Anpassung für die asynchronen Einheiten so reibungslos und kompetent umgesetzt werden konnte.
Bei den synchronen Seminareinheiten zu den Inhalten der EbM hatten wir den Vorteil, dass sich diese per se theoretischen Themen prinzipiell gut in eine Online-Lehre transferieren lassen. Dennoch waren wir am Anfang natürlich auch unsicher, wie gut das Thema Online-Lehre als bisher unbekanntes Lehrmedium überhaupt zu meistern sein wird. Den Umgang mit WebEx kannte im März 2020 noch niemand. Aber Dank engem und regem Austausch und gutem Teamwork bei uns im Lehrteam konnten wir uns relativ schnell die Funktionen und Möglichkeiten dieser Plattform aneignen und anwenden.
Wir haben die Übernahme der synchron ablaufenden EbM-Einheiten auf zwei Dozierende für das Semester reduziert: Frau Labohm und mich. Dies ermöglichte uns einen engen und stetigen Austausch und damit rasche Anpassung an Probleme oder Herausforderungen der Online-Lehre. An dieser Stelle geht ein großer Dank an Frau Labohm für die kompetente und grandiose Unterstützung in der synchronen Lehre sowie auch an das ganze Lehrteam unseres Instituts.
Über die aktuelle Situation wird man in einer Lehrveranstaltung nicht sprechen können, ohne natürlich die Themen Covid-19, aber wahrscheinlich auch Fake Science und Verschwörungsideologien zu berühren. Wie wurde dies an Sie herangetragen, und wie haben Sie darauf reagiert?
Unabhängig von der aktuellen Situation einer Pandemie-Zeit ist das Verständnis und das Erkennen von Fake Science oder nicht validen Quellen eine Kompetenz, die angehende Ärzt*innen und Pflegende erlernt haben sollten. Wie auch eine gewisse Gesprächskompetenz zu erwerben, Ergebnisse aus wissenschaftlichen Ergebnissen verständlich zu vermitteln und somit auch Verschwörungstheoretiker*innen kompetent begegnen zu können. Daher ist das Thema Fake Science von jeher Inhalt in unseren EbM-Einheiten.
In dieser besonderen Situation der Pandemie kamen zu diesem Thema aber zusätzliche Fragen zum persönlichen Umgang im eigenen Freundes- oder Familienkreis, etwa mit Thesen und Ideen aus dem Bereich unterschiedlicher Verschwörungstheorien, auf. Wir haben das stets gerne aufgegriffen und in der Gruppe diskutiert. Wir hatten den Eindruck, dass die Wichtigkeit des Wissens um Fake Science und dessen Erkennen nochmals deutlicher die Relevanz von wissenschaftlichen Kompetenzen unterstrichen hat.
Welche persönlichen Visionen und Wünsche haben Sie für die zeitgemäße, gute Lehre an unserer Universität?
Ich denke, dass wir an der Universität Lübeck den Studierenden schon eine hochqualitative und zeitgemäße Lehre anbieten. Dennoch habe ich als Dozierende aus der Zeit der Online-Lehrerfahrung zusätzlich wichtige neue Lehrtools dazugelernt, die ich gerne in Teilen auch in der Präsenzlehre weiterhin nutzen möchte. Daher wünsche ich mir, dass dazu noch mehr technische Voraussetzungen am Campus geschaffen werden.
Ich freue mich, bin aber auch gespannt, wie die anstehende Umstellung des Medizinstudiums aufgrund der geplanten Änderung der Approbationsordnung hier am Campus in den nächsten Jahren umgesetzt werden wird. Ein Fokus der Änderung wird dabei die Stärkung von wissenschaftlichen Kompetenzen im Medizinstudium sein.
Und persönlich freue mich natürlich wieder auf die Präsenzlehre und den realen Austausch mit den Studierenden, wann auch immer das sein wird. Dennoch habe ich durch die Online-Lehre neben vielen Herausforderungen auch noch einmal eine ganz andere Wertschätzung der Studierenden zur Hochschullehre erfahren. Und ich konnte als Dozierende auch Neues und Wichtiges von den Studierenden aus dieser Zeit mitnehmen und reflektieren. Das war eine wichtige Erfahrung für mich als Dozierende, die ich trotz der Anstrengungen und Mühe nicht missen möchte. Ich hoffe, dass wir alle die positiven Erfahrungen aus dieser besonderen Lehrerfahrung und die Wertschätzung zu dem wichtigen Gut „Lehre“ mit zurück in die Präsenzlehre nehmen werden.
(Fragen: Rüdiger Labahn)
Der Lehrpreis der Universität zu Lübeck wird seit 2016 jährlich verliehen. Er ist überfachlich und interdisziplinär ausgerichtet und wird universitätsweit ausgelobt.
Die Auszeichnung soll die besondere Bedeutung der Hochschullehre u.a. auch für die Ausbildung des akademischen Nachwuchses sichtbar machen und einen karrierewirksamen Anreiz schaffen, sich in der Hochschullehre zu engagieren und sie über den eigenen Wirkungsbereich hinaus zu fördern. Gleichzeitig soll die Qualität der Lehre aller Lehrenden als ein zentrales Gütekriterium etabliert und als strategisches Ziel des Qualitätsmanagements der Hochschule profiliert werden.
Der Lehrpreis steht in jedem Jahr unter einem besonderen Motto. 2020 war dies „Theoretische Praxis oder praktische Theorie?!“. Die früheren Jahresmotti lauteten „Forschendes Lernen“ (2019), „Digitale Lehre“ (2018), „Verständigung“ (2017) und „Universität der Vielfalt“ (2016).
für die Ukraine