Prof. Martin Kircher aus dem Lübecker Institut für Humangenetik hat viele Jahre zusammen mit Prof. Svante Pääbo geforscht - "Konzepte wie ‚Rasse‘ gehören nicht in unsere Zeit"
Prof. Svante Pääbo, Medizin-Nobelpreisträger 2022, forscht und lehrt in Leipzig. Am dortigen Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie war er einer der Doktorväter von Martin Kircher, der seit Beginn dieses Jahres Professor für Regulatorische Genomik an der Universität zu Lübeck ist. Für den Newsletter der Universität berichtet Prof. Kircher über die damalige Zusammenarbeit im Forschungsteam von Prof. Pääbo.
Prof. Pääbo erforscht, welche genetischen Veränderungen in der Evolutionsgeschichte den modernen Menschen ausmachen. 1985 publizierte er erste Ergebnisse zum Erhalt von DNA in einer 2400 Jahre alten ägyptischen Kindermumie und in den 90er Jahren bestimmte er mitochondriale DNA-Fragmente aus einem Neandertaler-Knochen. Er ist damit der Begründer der Erforschung alter DNA ("ancient DNA"). Seine Leipziger Arbeitsgruppe am Max Planck für evolutionäre Anthropologie vergleicht seit 1997 Genmaterial des heutigen Menschen sowohl mit anderen Arten der Gattung Homo, zum Beispiel dem Neandertaler, als auch mit dem anderer Frühmenschenarten und dem von Menschenaffen.
Prof. Kircher hat 14 wissenschaftliche Arbeiten gemeinsam mit Prof. Pääbo veröffentlicht, neun davon mit Bezug zu alter DNA des Neandertalers und des Denisova-Menschen aus dem Altaigebirge in Sibirien. Die DNA-Analysen zum Denisova-Menschen sorgten 2010 für weltweites Aufsehen, da sie zeigten, dass es sich bei dem Fossil um eine bis dahin unbekannte, den Neandertalern nahe stehende Population der Gattung Homo handelt.
Kontaminationskrise und eine winterliche Busfahrt nach Dubrovnik
An die entscheidenden Phasen des Forschungserfolgs in Leipzig hat Prof. Kircher eine Vielzahl persönlicher Erinnerungen. Als er 2007 seine Doktorarbeit in der Arbeitsgruppe begann, erschien gerade eine Arbeit von Jeffrey D. Wall und Sung K. Kim, welche die im Vorjahr in Science und Nature publizierten ersten genomischen Neandertal-Daten in Frage stellte und damit breites Zweifeln an der Möglichkeit eines Neandertaler Genoms auslöste („Kontaminationskrise“). Als durch verschiedene Analysen und neue Methoden für die Quantifizierung moderner humaner Kontamination in den Daten diese Krise abgewendet werden konnte, erfolgte im Jahr 2008 auch der Wechsel von der 454- zur Illumina-Sequenzierung, eine maßgebliche Veränderung des Projektes die Prof. Kircher mit der technologischen Implementierung und neuer Software begleitete.
Aufgrund von Zeitdruck und damals noch sehr begrenzten Sequenzierkapazitäten fand ein Teil der Sequenzierung sogar in den USA am Broad Institute in Boston statt. Die Daten wurden dann in Kartons mit Festplatten auf einer Holzpalette nach Deutschland geschickt. Die Gruppe in Leipzig spielte sie über Weihnachten und Neujahr ein und analysierte sie noch, bevor im Frühjahr 2009 das Neandertaler-Konsortium nach Dubrovnik in Kroatien zusammenkam, um die Analyse des Genoms zu besprechen. "Es war ein sehr kalter Winter. Daher konnten Teile des Fluges nicht stattfinden", erzählt Prof. Kircher. "Es gab dann eine ungeplante Busfahrt durch Serbien, für die viele der internationalen Teilnehmer gar keine Visen besaßen. Zum Glück gab es aber auch keine Grenzkontrolle, da die Kontrolleure gerade mit einer Schneeballschlacht beschäftigt waren.“
Prof. Pääbo berichtet ausführlich in seinem Buch „Die Neandertaler und wir: Meine Suche nach den Urzeit-Genen“ („Neanderthal Man: In Search of Lost Genomes“) aus dem Jahr 2014 über den langen Weg zu den ersten Neandertaler und Denisova-Genomen 2009 und 2010.
Die Bedeutung der Forschungen zeigt sich besonders in der noch relativ jungen Paläogenetik, die historische Proteine und DNA-Sequenzen rekonstruiert und als deren Mitbegründer Prof. Pääbo gilt. Mit ihr ist es möglich geworden, unsere eigene Evolution mit quantitativen Methoden zu erforschen und genetische Änderungen zu datieren. Die frühere „Ersetzungstheorie“ ist dadurch durch eine „Vermischungstheorie“ abgelöst worden. „Wir haben ein besseres Verständnis gewonnen, dass wir alle ein großes Gemisch von Erblinien sind und dass Konzepte wie ‚Rasse‘ nicht in unsere Zeit gehören“, sagt Prof. Martin Kircher.
Lübecker Forschung zu genetischen Krankheitsvarianten
Am Lübecker Institut für Humangenetik (Direktor: Prof. Malte Spielmann) schließt Prof. Kircher insofern an die früheren Arbeiten an, als dass evolutionäre Veränderungen sehr viel mit der Interpretation genetischer Varianten in seltenen und häufigen Krankheiten gemeinsam haben. Die Varianteninterpretation in Bezug auf ihre phänotypische oder molekularbiologische Funktion ist daher ein Thema, das ihn inzwischen seit mehr als 13 Jahren begleitet. In Lübeck verwendet seine Gruppe auch andere Konzepte aus der Evolution und der vergleichenden Genomik, etwa die Prozesse von negativer Selektion und verschiedene Maße für die funktionelle Beschränkung von Sequenzveränderungen.
Der Schwerpunkt des Teams ist die Forschung an computerbasierten Methoden für die Identifikation von funktionell relevanten genomischen Sequenzen und Sequenzvarianten. Die Gruppe entwickelt ein weitläufig benutztes Varianteneffekt-Scoringtool (Combined Annotation Dependent Depletion, CADD), Verfahren für die funktionelle Bewertung von Strukturvarianten (CADD-SV), Methoden für die Sequenzierdatenanalyse (unter anderem im Bereich Targeted Sequencing und Liquid Biopsies/cell-free DNA), analysiert experimentelle Messungen der Effekte nicht-kodierender Sequenzveränderungen (zum Beispiel mittels Massively Parallel Reporter Assays, MPRAs) und nutzt diese Daten für die Entwicklung von Modellen regulatorischer Sequenzeffekte.
Gemeinsam mit der Arbeitsgruppe von Prof. Nadav Ahituv an der University of California in San Francisco/USA und Prof. Jay Shendure an der University Washington/USA) bilden sie unter anderem ein Characterization Center für regulatorischer Sequenzeffekte im Rahmen des Impact of Genomic Variation on Function (IGVF) Consortium, gefördert durch das National Human Genome Research Institute (NHGRI) der USA.
Prof. Svante Pääbo, Nobelpreisträger 2022 (links), mit Mitgliedern seines Forschungsteams in der Abteilung Evolutionäre Genetik des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig 2010. Rechts Dr. Martin Kircher, heute Professor am Institut für Humangenetik der Universität zu Lübeck und des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, Campus Lübeck (Foto: Frank Vinken / MPI-EVA)
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